Weniger Arbeit heißt weniger Wohlstand

Wohlstand Arbeit

Von Holger Schäfer, Senior Economist, Institut der deutschen Wirtschaft

Deutschland droht in den kommenden Jahren eine demografisch bedingte Arbeitskräfteknappheit. Es erscheint utopisch, dass arbeitssparender technischer Fortschritt die Probleme löst. Mehr Arbeitskräfte und längere Arbeitszeiten sind die einzigen Möglichkeiten, einen Wohlstandsverlust abzuwenden.

Der deutsche Arbeitsmarkt steht vor einer beispiellosen Herausforderung. Bisherige Arbeitsmarktkrisen waren durch ein Überangebot von Arbeitskräften gekennzeichnet. Noch bis 2006 war Arbeitslosigkeit das mit Abstand größte Problem. In den kommenden Jahren wird jedoch die Knappheit des Arbeitskräfteangebotes das alles bestimmende Thema sein – selbst wenn die Konjunktur weiterhin lahmt. 

Die Ursache ist natürlich die Demografie und die Verrentung geburtenstarker Jahrgänge. Allein in der nächsten Legislaturperiode werden 2 Millionen Menschen mehr das Renteneintrittsalter erreichen, als Jüngere in das Arbeitsmarktalter hineinwachsen. Der Höhepunkt wird im Jahr 2031erreicht, wenn der Jahrgang 1964 – mit 1,4 Millionen Personen der zahlenmäßig stärkste, den es in Deutschland gab – spätestens in Rente geht. Der Jahrgang, der ihn ersetzen muss, ist nur noch halb so groß.

Migrationsanreiz wird geringer

Um diese unausweichlichen Entwicklungen zu kompensieren, müssen unverzüglich alle Hebel in Bewegung gesetzt werden: Die arbeitsmarktgesteuerte Zuwanderung von Fachkräften muss intensiviert werden, die Erwerbsbeteiligung muss steigen und die Arbeitszeit muss zunehmen. Das alles wird schwer genug: Die Hauptherkunftsländer der Fachkräfteeinwanderung nach Deutschland waren bislang vor allem die ost- und mitteleuropäischen EU-Beitrittsländer. Diese haben aber erstens selbst demografische Lücken und zweitens verringert sich ihr Wohlstandsrückstand gegenüber Deutschland. Die Konsequenz dieser grundsätzlich erfreulichen wirtschaftlichen Konvergenz ist, dass der Migrationsanreiz geringer wird. Es wird künftig stärker darauf ankommen, Fachkräfte aus Drittstaaten zu rekrutieren. Erst langsam greift die Erkenntnis, dass wir dafür jetzt die Voraussetzungen schaffen müssen.

Die Erwerbsbeteiligung ist zwar grundsätzlich steigerbar, liegt im europäischen Vergleich jedoch bereits in der Spitzengruppe. Allein die skandinavischen Länder sind hier voraus. Selbst wenn man einen Masterplan hätte, mit dem die Erwerbsbeteiligung gesteigert werden kann, dürfte es einige Jahre in Anspruch nehmen, bevor sich Effekte zeigen. Sei es, weil sich kulturell verankerte Verhaltensmuster nur langsam ändern, sei es, weil Maßnahmen wie eine Erhöhung des Renteneintrittsalters mit langen Übergangsfristen verbunden sind, oder sei es, weil die Umsetzung von Maßnahmen wie dem Ausbau der Kinderbetreuung womöglich selbst an der Personalknappheit scheitern, die sie eigentlich bekämpfen sollen. Die Babyboomer-Verrentung steht hingegen unmittelbar bevor.

Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial

Was Deutschland vielen anderen Ländern bei der Erwerbsbeteiligung voraus hat, erweist sich im Hinblick auf die durchschnittliche Arbeitszeit als Rückstand. Erwerbsbeteiligung und Arbeitszeit je Erwerbstätigen hängen einerseits zusammen: Wenn es gelingt, zuvor nicht erwerbstätige Personen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, erfolgt dies häufig in Teilzeit. Die durchschnittliche Arbeitszeit sinkt, aber dennoch wird mehr gearbeitet als vorher. 

Leider kann andererseits die überdurchschnittliche Erwerbsbeteiligung in Deutschland die weit unterdurchschnittliche Arbeitszeit nicht kompensieren. Im Ergebnis schöpfen wir unser Arbeitskräftepotenzial schlechter aus als die meisten anderen Länder – wobei klar ist, dass der längere Hebel bei der Arbeitszeit liegt. Ebenso klar ist, dass Diskussionen um Arbeitszeitverkürzungen den Herausforderungen nicht gerecht werden.

Jede Arbeitskraft, die in den nächsten Jahren in Rente geht, hinterlässt eine Lücke, die schwer zu schließen ist. Die Bewältigung dieser Herausforderung ist nicht allein eine Geldfrage oder eine Frage der Finanzierbarkeit sozialer Sicherungssysteme. In jeder Stunde, die weniger gearbeitet wird, werden keine Güter und Dienstleistungen produziert, die wir konsumieren oder für soziale Zwecke umverteilen wollen. Es wird von allem weniger vorhanden sein – was Wohlstandsverlust bedeutet und Verteilungskonflikte verschärft.

Produktivitätswachstum rückläufig

Dass neue Technologien menschliche Arbeit so weitgehend ersetzen könnten, dass die Arbeitskräfteknappheit nicht spürbar wird, ist zwar nicht auszuschließen, erscheint aber wenig wahrscheinlich. Seit jeher strebt der Mensch nach Erfindungen, die ihm Arbeit abnehmen – mit Erfolg. Mittlerweise können sogar viele Dienstleistungen dank künstlicher Intelligenz automatisiert werden. Dennoch haben alle diese Erfindungen bislang nie dazu geführt, dass menschliche Arbeit überflüssig wurde. Ein Grund: Neue Technologien sparen zwar Arbeit ein, schaffen aber auch neue Bedürfnisse, für deren Befriedigung Arbeit erforderlich wird. 

Die Produktivitätsentwicklung in Deutschland – aber auch in vielen anderen Industrieländern – reflektiert diese Argumentation: Im Trend geht das Produktivitätswachstum zurück. In den letzten zehn Jahren stieg die Stundenproduktivität jahresdurchschnittlich lediglich um 0,8 %. Wollte man etwa eine Viertagewoche und die einhergehende Arbeitszeitverkürzung von 20 % durch höhere Produktivität ausgleichen, wären dafür 30 Jahre mit durchschnittlichem Produktivitätswachstum erforderlich – in denen dann aber kein Spielraum mehr für Reallohnerhöhungen bestünde. Das ist utopisch. Wenn wir unseren Wohlstand als Gesellschaft halten wollen, führt kein Weg daran vorbei, dass jeder Einzelne mehr arbeitet.

Zum Autor

Holger Schäfer, Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bremen, seit 2000 Senior Economist am Institut der deutschen Wirtschaft für den Bereich Arbeitsmarktökonomie. Forschungsschwerpunkte umfassen konjunkturelle und strukturelle Entwicklungen am Arbeitsmarkt.

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