Handlungsoptionen für geschädigte Wirecard-Anleger

Wirecard Prozess
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Der Wirecard-Skandal hat Tausende Privatanleger wohl über 20 Mrd. Euro gekostet. Dutzende Anwälte werben nun für Klagen gegen Verantwortliche. Wir zeigen, welche Klageoptionen angeboten werden und wie der aktuelle Stand der jeweiligen Verfahren ist.

Die Wirecard AG hat am 25.6.2020 einen Insolvenzantrag gestellt, nachdem bekannt geworden war, dass bilanzierte Guthaben über 1,9 Mrd. Euro nicht existierten. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY hatte nach derzeitigem Kenntnisstand jahrelang ein Testat erteilt, ohne sich Bestätigungen über die angeblichen Guthaben auf Treuhandkonten in Singapur einzuholen, obwohl es in den letzten Jahren vor der Insolvenz immer wieder kritische Berichterstattung über die Vorgänge rund um die Wirecard AG gab. Sowohl die Anleger, aber auch viele Behördenvertreter haben sich auf die uneingeschränkten Testate von EY verlassen und daher den Begründungen von Wirecard, wonach die Berichterstattung auf ein Zusammenspiel von Leerverkäufern und Journalisten zurückzuführen sei, vertraut. Dies haben zahlreiche Anlegeranwälte zum Anlass genommen, in erster Linie von EY Schadensersatz zu verlangen. 

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Den zuständigen Wirtschaftsprüfern wird vorgeworfen, nicht nur grob fahrlässig, sondern mit Eventualvorsatz gehandelt zu haben. Sie hätten den durch die wissentliche Falschtestierung entstehenden Schaden Tausender Anleger erkannt und billigend in Kauf genommen. EY lehnt bisher jegliche Verantwortung oder Mitwirkung bei der Aufklärung (z. B. im von der Bundesregierung eingesetzten Untersuchungsausschuss) ab.

Das Landgericht München I hatte im November 2021 mitgeteilt, dass zu diesem Zeitpunkt bereits 115 Klagen gegen EY abgewiesen worden sind. Das Landgericht begründet seine Entscheidungen mit dem Argument, dass die Anleger nicht hätten nachweisen können, dass die Testate von EY für den Kauf ausschlaggebend gewesen sind, und auch kein vorsätzliches Handeln der Prüfer feststellbar sei. Das Oberlandesgericht München hat in einem Revisionsverfahren die Entscheidung einer Kammer des Landgerichts im Dezember 2021 jedoch ungewohnt deutlich als zu oberflächlich kritisiert und die Einleitung eines sogenannten KapMuG-Verfahrens (Kapitalanleger-Musterverfahren) angeregt.

Bei einem KapMuG-Verfahren bestimmt das Gericht einen Musterkläger, anhand dessen Fall beispielhaft die kausalen Haftungsfragen geklärt werden. Der Ausgang dieses Verfahrens hat in der Regel dann für alle anderen Betroffenen entsprechende Signalwirkung. Entscheidet das Gericht zugunsten des Musterklägers, können alle anderen Betroffenen, sofern der Sachverhalt identisch ist, sich auf die Feststellungen im KapMuG-Verfahren berufen, ohne das der Sachverhalt noch einmal von Neuem geklärt werden muss. Dies erspart in der Regel Kosten, auch wenn, sofern es keinen weitumfassenden Vergleich mit der Beklagten geben sollte, jeder einzelne Geschädigte seinen Anspruch nach dem Ende des KapMuG-Verfahrens weiterhin eigenständig einklagen muss.

Um am KapMuG-Verfahren teilzunehmen, muss jeder Geschädigte über einen Anwalt seinen Anspruch zum Musterverfahren anmelden. Dies kann jedoch erst dann erfolgen, sobald der Musterkläger vom Gericht bekannt gemacht worden ist.

KapMuG-Verfahren

Dem Vorschlag des Oberlandesgerichts kam das Landgericht München I am 14. März 2022 nach und eröffnete auf Antrag durch die Kanzlei TILP vertretenen Klägern ein KapMuG-Verfahren. Zuständig für das Verfahren ist das Bayerische Oberste Landesgericht. Dieses muss nun prüfen, ob EY bei der Prüfung der Bilanzen von Wirecard Pflichtverletzungen begangen hat, die Ansprüche von Anlegern und institutionellen Investoren auf Schadensersatz begründen können. Der Vorlagebeschluss richtet sich nicht nur auf Feststellungsziele gegenüber EY, sondern u. a. auch gegenüber Markus Braun. Die Kanzlei TILP hat angekündigt, dass zeitnah auch ein Prozesskostenfinanzierer vorgestellt werden soll, der die Kosten des KapMuG-Verfahrens übernehmen soll. Details hierzu liegen noch nicht vor.

Die Einleitung eines KapMuG-Verfahrens hat zur Folge, dass alle derzeit gegen EY und Markus Braun laufenden Klagen bis zum Musterentscheid ausgesetzt werden. Die Feststellungen aus dem Musterentscheid sind verbindlich. Eine offizielle Eröffnung des Musterverfahrens durch das Bayerische Oberste Landesgericht ist noch nicht erfolgt, daher läuft derzeit noch keine Frist zur Anmeldung der Ansprüche zum KapMuG-Verfahren. Wann diese Frist zu laufen beginnt, scheint noch völlig unklar.

Nach Informationen von AnlegerPlus wollen sich mindestens vier Rechtsanwaltskanzleien um die Position des Musterklägers bewerben. Das Bayerische Oberlandesgericht steht aktuell zudem vor dem Problem, dass vonseiten einiger Anlegeranwälte auch die Zulässigkeit des KapMuG-Verfahrens infrage gestellt wird. Unter anderem wird argumentiert, dass die Testate keine Kapitalmarktinformation im Sinne des KapMuG gewesen seien. Aus diesem Grund sei ein Verfahren nach dem KapMuG im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Teilweise wurde bereits angekündigt, eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, sofern die derzeit von den Anwälten betreuten laufenden Zivilverfahren aufgrund des KapMuG-Beschlusses ausgesetzt würden. Kommt es zu einer solchen Verfassungsbeschwerde und würde dies erfolgreich verlaufen, ist völlig unklar, welche Auswirkungen dies auf das KapMuG-Verfahren haben würde.

Als ein weiteres Argument gegen ein KapMuG-Verfahren wird die oft sehr lange Dauer angeführt. Das jüngste Beispiel ist ein Musterverfahren in Bezug auf die Deutsche Telekom AG, das erst nach knapp 20 Jahren durch einen Vergleich beendet werden konnte. Würde das EY-Verfahren genauso lang dauern, befürchtet zum Beispiel der bekannte Anlegeranwalt Dr. Wolfgang Schirp, dass EY seine Geschäftstätigkeit und Vermögenswerte systematisch verlagern könnte, sodass zum Schluss nur noch eine leere Hülle ohne Haftungsmasse verbleiben könnte. Ansprüche der Anleger könnten dann nicht mehr vollständig bedient werden.

Bei EY Deutschland hält man das KapMuG-Verfahren aus anderen Gründen für ungeeignet. “EY Deutschland sowie die von EY beauftragten Rechtsanwälte sind der Auffassung, dass ein Testat keine Kapitalmarktinformation im Sinne des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz ist. Aus diesem Grund ist ein Verfahren nach dem KapMuG im vorliegenden Fall aus unserer Sicht nicht anwendbar”, heißt es gegenüber AnlegerPlus. “Diese Einschätzung wurde bereits in mehreren Entscheidungen des Landgerichts München bestätigt. Eingegangene Musteranträge wurden bislang entsprechend als unzulässig bewertet”, berichtet EY Deutschland. “Den Vorlagebeschluss der 3. Kammer (des Landgerichts München I, die Red.) halten wir für rechtlich unzutreffend und prüfen derzeit Rechtsmittel.”

Alle von AnlegerPlus befragten Anwälte sehen dagegen spätestens nach der Einlassung des Oberlandesgerichts München vom Dezember 2021 gute Chancen, gegen EY erfolgreich auf Schadensersatz zu klagen. Das Vorgehen der einzelnen Anwälte unterscheidet sich dabei jedoch deutlich. Wir zeigen, was die Kanzleien, die voraussichtlich die meisten Anleger vertreten werden, aktuell planen.

Prozesskostenfinanzierung via LitFin / Pinsent Masons

Einen anderen Weg als die Musterfeststellungklage wollte zunächst die Kanzlei Pinsent Masons zusammen mit dem Prozesskostenfinanzierer LitFin gehen. Die Anlegervereinigung SdK, die bereits im Jahr 2008 die Bilanzierungspraxis der Wirecard kritisiert hatte, unterstützt dieses Vorgehen. Die Anwälte von Pinsent Masons hielten die Einleitung eines KapMuG-Verfahrens zu Beginn für unwahrscheinlich und hatten daher damit geworben, im Wege von Einzelklagen vorgehen zu wollen.

LitFin bietet dabei die Prozesskostenfinanzierung an, um sich von der international tätigen Kanzlei Pinsent Masons vertreten lassen zu können. Eine Teilnahme ist ab einer Schadenssumme von 5.000 Euro für (auch ehemalige) Inhaber von Aktien und Anleihen der Wirecard AG möglich. Eine Finanzierung bei Derivaten ist jedoch ausgeschlossen. Für die Teilnahme ist eine einmalige Registrierungsgebühr in Höhe von 199 Euro zu bezahlen.

LitFin finanziert alle sonstigen Kosten und erhält dafür im Erfolgsfall eine Erfolgsprovision von 30 % (28 % bei Registrierung vor dem 30.4.2021). Bei einer Schadenssumme zwischen 100.000 Euro und 1 Mio. Euro beträgt die Erfolgsprovision 28 % (bzw. 26 %), ab einer Schadenssumme von 1 Mio. Euro beträgt sie 26 % (bzw. 24 %). Die Finanzierungszusage erstreckt sich dabei sowohl auf ein Musterverfahren nach dem KapMuG als auch auf eine Klage außerhalb des KapMuG. Wie Pinsent Masons auf die Einleitung des KapMuG-Verfahrens reagieren wird, ist aktuell nicht bekannt.

Stiftungslösung der DSW

Über die Anwaltskanzlei Nieding + Barth und die Anlegervereinigung DSW soll ein Entschädigungsfonds für betroffene Wirecard-Aktionäre in Form einer nach niederländischem Recht gegründeten Stiftung aufgebaut werden, um so Ansprüche der Wirecard Anleger geltend zu machen. Damit sollen nicht nur Ansprüche gegen EY Deutschland, wie im KapMuG-Verfahren vorgesehen, sondern auch Ansprüche gegen EY Global geltend gemacht werden. Inwieweit diese Lösung umsetzbar ist, hängt nach Aussage von Rechtsanwälten davon ab, ob EY dieser Lösung zustimmt. Bei EY Deutschland geht man offenbar nicht davon aus, dass es so weit kommt, wie das Unternehmen gegenüber AnlegerPlus betont: “Schadensersatzklagen gegen EY Deutschland bewerten wir weiterhin als unbegründet. Sämtliche erstinstanzliche Gerichtsurteile verschiedener Kammern des Landgerichts München I, die in diesem Kontext bereits ergangen sind, bestätigen unsere Position: Ansprüche gegen EY auf Schadensersatz bestehen nicht. Denn Abschlussprüfer haften im Verhältnis zu Anlegern nur bei Vorsatz. Unsere Prüfungsteams haben ihre Prüfungshandlungen dem damaligen Wissensstand entsprechend nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt. Auf die hohen Hürden für das Vorliegen von Vorsatz hat auch das Oberlandesgericht München bereits verwiesen.”

Prozesskostenfinanzierung via Kanzlei Schirp

Die Kanzlei Schirp aus Berlin sieht die Zulässigkeit des KapMuG-Verfahrens kritisch und setzt daher weiterhin auf Sammel- bzw. Einzelklagen. Hierfür wurde mittlerweile ebenfalls eine Prozesskostenfinanzierung ermöglicht, wobei an dieser Variante alle Aktionäre (unabhängig vom Streitwert) und auch Inhaber von Derivaten teilnehmen können. Bisher ist Schirp damit der einzige bekannte Anbieter, der auch Derivateinhabern aussichtsreiche Chancen auf Schadensersatz zugesteht.

Prozesskostenfinanzierung via Kanzlei TILP

Die Kanzlei TILP setzt auf das von ihr initiierte KapMuG-Verfahren. Hierfür ist ebenfalls eine Prozesskostenfinanzierung angekündigt worden, deren Bedingungen unserer Kenntnis bis dato noch nicht vorliegen. Unklar ist daher, ob die Finanzierung auch die nach dem Ende des KapMuG-Verfahrens möglicherweise notwendige Individualklage abdeckt. Regelmäßig werden im KapMuG-Verfahren nur Rechtsfragen geklärt, deren Ergebnis dann für die folgende Individualklage bindend ist. Es ist jedoch ebenso möglich, mit allen Teilnehmern des Musterverfahrens einen Vergleich zu schließen. In diesem Fall wäre dann keine Individualklage mehr erforderlich.

TILP ist eine der erfahrensten Kanzleien auf dem Gebiet von KapMuG-Verfahren und vertritt in einigen bekannten Verfahren auch den dortigen Musterkläger.

Geltendmachung auf eigene Kosten

Daneben besteht immer noch die Möglichkeit, Ansprüche auf eigene Kosten geltend zu machen. Eine Erfolgsbeteiligung Dritter gibt es dabei logischerweise nicht. Im Gegenzug trägt der Anleger alle Kosten und damit auch die Kosten der Gegenseite bei Klageabweisung selbst.

Schadensersatzklagen gegen (ehemalige) Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder

Viele Anwaltskanzleien sprechen sich für eine Inanspruchnahme der ehemaligen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Wirecard AG aus. Solche Klagen dürften nach Auskunft der angefragten Rechtsanwälte zwar rechtlich erfolgversprechend, jedoch wirtschaftlich sinnlos sein. Denn die Aktionäre sind nicht die einzigen Anspruchsinhaber. Der Insolvenzverwalter hat gegen die ehemaligen Vorstandsmitglieder Markus Braun, Jan Marsalek, Susanne Steidl und Alexander von Knoop sowie die Aufsichtsratsmitglieder Wulf Matthias und Stefan Klestil Klage erhoben und fordert insgesamt 140 Mio. Euro.

Dabei ist zu beachten, dass der Insolvenzverwalter über eine wesentlich bessere Detailkenntnis verfügt als der durchschnittliche Anwalt, da er Einblick in sämtliche Geschäftsdokumente hat. Das Vermögen der Personen dürfte nach Ansicht der meisten Rechtsanwälte kaum ausreichen, die im Raum stehenden Schadensersatzansprüche auch nur ansatzweise zu bedienen. Zudem befindet sich Jan Marsalek weiterhin auf der Flucht.

Einzig Markus Braun dürfte über ein hohes Vermögen verfügen, um zumindest teilweise Ansprüche bedienen zu können. Rechtsanwalt Michael A. Leipold hat deshalb nach eigenen Angaben für über 500 Mandanten gegen Braun und seine MB Beteiligungsgesellschaft mbH erfolgreich erwirkt, im Falle einer späteren Verurteilung auf das Vermögen zugreifen zu können. Die Anwälte von Pinsent Masons wollten ebenfalls nicht ausschließen, gegen ehemalige Vorstände zu klagen. Ob diese Strategie aufgeht, ist ungewiss.

Klagen gegen Braun auch in Österreich möglich

Wiener Anwälte haben eine Musterklage auf Schadensersatz gegen Markus Braun in Österreich eingebracht. Braun hatte dagegen argumentiert, dass er wegen seiner andauernden U-Haft in Bayern seinen Wohnsitz nicht mehr in Wien hat. Dem hat das Oberlandesgericht Innsbruck mit rechtskräftigem Beschluss vom 14. Oktober 2021 widersprochen und die erstinstanzliche Entscheidung des Landesgerichts Innsbruck bestätigt. Braun hatte weiter aufgeführt, sich in seinem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gefährdet zu sehen, und regte die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof an. Das OLG Innsbruck hat allerdings entschieden, dass es bereits an der Grundlage für die Einleitung eines solchen Verfahrens fehle. Damit sind Klagen gegen Markus Braun auch in Österreich möglich.

Klagen gegen die BaFin und die Bundesrepublik Deutschland

Die Kanzlei TILP hat angekündigt, auch gegen die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) auf Schadensersatz zu Klagen, da diese ihre Amtspflichten u. a. mit der Verhängung eines Leerverkaufsverbots im Februar 2019 verletzt habe. Hier ist mittlerweile in einigen Verfahren bereits ein erstinstanzliches Urteil ergangen. Das Landgericht Frankfurt hat entschieden, dass Wirecard-Aktionäre keinen Anspruch auf Schadensersatz gegen die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) wegen der erlittenen Verluste haben.

Die Anlegervereinigung SdK steht nach eigener Aussage kurz vor der Einreichung einer Staatshaftungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland, da diese eine EU-Richtlinie nicht vollständig umgesetzt habe, was dazu geführt habe, dass die Aufsicht über börsennotierte Unternehmen wie Wirecard nicht funktionieren konnte. Hierzu wurde ein Gutachten von Prof. Dr. Moritz Renner eingeholt. Die SdK wird in diesem Fall aber zunächst Musterklagen führen und rät geschädigten Aktionären zunächst nicht zur Einreichung von eigenständigen Klagen.

Alles in allem bestehen aus Sicht der von AnlegerPlus befragten Anwälte gute Chancen, zumindest Teile des Schadens ersetzt zu bekommen. Inwieweit dies jedoch realistisch erscheint, lässt sich heute schwer beurteilen. Einen vergleichbaren Fall hat es bisher nach Recherchen von AnlegerPlus nicht gegeben, daher wird spätestens der Bundesgerichtshof final über die Ansprüche der Anleger entscheiden müssen. 

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