Kaum eine Branche unterliegt derzeit einem so starken Umbruch wie die globale Energiewirtschaft. Dies liegt nicht nur am Trend, fossile Energieträger durch regenerativen Strom zu ersetzen. Vielmehr sind die Zulassungszahlen bei E-Autos zuletzt in die Höhe geschossen, was mittelfristig den Strombedarf spürbar erhöhen wird.
Am europäischen Energiemarkt ging es in diesem Herbst bislang überaus stürmisch zu, was mittlerweile immer mehr Verbraucher zu spüren bekommen. Denn zuletzt sind nicht nur die Großhandelspreise für Strom explodiert, weshalb drastische Strompreiserhöhungen bei den Versorgern nur eine Frage der Zeit sind bzw. schon angekündigt werden. Parallel ist der Gaspreis am bedeutenden Rotterdamer Spotmarkt steil angestiegen. Deswegen müssen Industrie und Verbraucher zugleich auch von dieser Seite mit deutlich anziehenden Kosten rechnen.
Viele Versorger in der Zwickmühle
Für die klassischen Energieversorger ist das fundamentale Umfeld dennoch keinesfalls einfach. Zwar bestehen für viele Player beste Chancen, deutlich höhere Energietarife durchzusetzen. Allerdings sind die Kosten für die Stromerzeugung oder den Bezug am Strommarkt derart stark gestiegen, dass es fraglich ist, ob die Unternehmen ihre Mehraufwendungen voll an die Kunden weitergeben können.
Verstärkt werden diese Zweifel durch politische Maßnahmen in einigen EU-Ländern, welche darauf abzielen, die Verbraucher vor zu starken Preiserhöhungen zu schützen. Sollte es tatsächlich zu derartigen regulatorischen Eingriffen kommen, würde dies die Margen der Energieanbieter massiv belasten, was sicherlich nachteilig für die Aktionäre dieser Firmen wäre.
An der Börse haben sich die Anteilscheine vieler europäischer Versorger wie beispielsweise der Essener RWE AG und des italienischen Platzhirschen Enel zuletzt vergleichsweise enttäuschend entwickelt. Während zahlreiche führende Aktienindizes jüngst neue Rekorde markieren konnten, traten viele Versorger bei der Kursentwicklung auf der Stelle oder verharrten sogar in einem Abwärtstrend.
Dank der unterdurchschnittlichen Performance haben jetzt aber viele Titel ein attraktives Bewertungsniveau erreicht, das mittelfristig deutliches Kurspotenzial möglich machen könnte. Denn langfristig sollten sich die Lieferprobleme bei Energieträgern wie Gas entspannen und die Preise am Strommarkt dank einer permanent höheren Menge an regenerativ erzeugter Energie wieder fallen. Zudem bestehen beste Aussichten, dass der Stromabsatz deutlich anzieht, da neben dem Wandel hin zur Elektromobilität viele Bereiche der Industrie vermehrt Kohle, Öl und Gas durch Strom substituieren werden.
Im Einkauf liegt der Gewinn
Während sich klassische Versorgungstitel unterdurchschnittlich entwickeln, sind die Papiere von einigen Anbietern, die ausschließlich auf erneuerbare Energien setzen, nahezu durch die Decke geschossen. Beispielsweise befindet sich der Anteilschein der in Florida ansässigen Firma NextEra Energy seit Anfang 2009 in einem Dauerhaussemodus. Allerdings wird diese bei vielen Privatanlegern überaus populäre Trendaktie mittlerweile mit einem geschätzten 2022er-KGV von 31 und einem zu erwartenden 2023er-KGV von 29 gehandelt, sodass angesichts dieser hohen Bewertung das Chance-Risiko-Verhältnis nicht mehr attraktiv ist.
Anleger müssen deshalb einkalkulieren, dass solche Titel bei einer Marktkorrektur überdurchschnittlich stark in Mitleidenschaft geraten, da auch in dieser Sparte die Bäume keinesfalls in den Himmel wachsen. Vielmehr sollte der Wettbewerbsdruck für die meisten aufstrebenden Anbieter massiv zunehmen, da die traditionellen Versorger auch in den USA immer stärker in den Markt mit regenerativem Strom einsteigen.
Im Gegensatz dazu werden die Aktien von vielen klassischen Firmen, die keinem Hype wie die NextEraEnergy-Aktie unterlagen, derzeit nicht nur mit niedrigen KGVs gehandelt. Vielmehr winken diese Papiere mit attraktiven Dividendenrenditen, die für konservative Anleger im anhaltenden Niedrigzinsumfeld überaus attraktiv sind.
Zugegebenermaßen sind beispielsweise bei Papieren wie E.ON oder dem französischen Unternehmen ENGIE kurzfristige Traumrenditen über Kursgewinne kaum zu erzielen. Dafür investieren Anleger in solide Geschäftsmodelle, die derzeit lediglich mit einem geschätzten 2022er-KGV von 13 bzw. knapp 11 bewertet werden und aufgrund des aktuell niedrigen Aktienkurses solide Wertsteigerungen und Ausschüttungen erwarten lassen.
Fazit
Bereits in der ersten Dekade der 2000er-Jahre mussten Anleger schmerzhaft erfahren, dass es keinesfalls sinnvoll ist, blind in Versorgeraktien zu investieren. Letztendlich entpuppten sich die Aktien von damaligen Erneuerbare-Energie-Stars wie SolarWorld und Q-Cells bekanntlich als Kapitalvernichter. Gleiches galt in der zweiten Dekade nach regulatorischen Eingriffen für etablierte Versorgeraktien. Doch einige klassische Titel bieten derzeit ein günstiges Einstiegsniveau, das angesichts der langfristigen Wachstumschancen insbesondere für geduldige Schnäppchenjäger attraktiv ist.
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