Fragen und Antworten zum Wirecard-Prozess

Wirecard Prozess Markus Braun
Hier gehts zur Invest mit dem AnlegerPlus Aktionscode ANLEGER24

Interview mit Prof. Dr. Frank Saliger und Dr. Theresa Schweiger, LMU München

Rund um den Wirecard-Skandal und das derzeit laufende Strafverfahren gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. Markus Braun und weitere ehemalige Wirecard-Manager stellen sich zahlreiche rechtliche Fragen, beispielsweise zum möglichen Strafmaß. Für Anleger stellt sich die Frage, ob und in welcher Höhe sie mit einer Entschädigung rechnen können. Bei dem durchaus vergleichbaren Bilanzskandal rund um Comroad 2002 gingen die Anleger weitgehend leer aus – unter anderem, weil der Freistaat Bayern vorrangig entschädigt wurde.

Prof. Dr. Frank Saliger und Dr. Theresa Schweiger vom Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie an der LMU München nehmen nachfolgend ausführlich Stellung zu rechtlichen Fragen rund um den Wirecard-Skandal.

Anzeige

Markus Braun wird von der Staatsanwaltschaft der unrichtigen Darstellung, der gewerbs- und bandenmäßigen Marktmanipulation, der Untreue und des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs bezichtigt. Jeweils in Tatmehrheit. Können Sie uns erläutern, wie in einem solchen Fall ein mögliches Strafmaß ermittelt werden könnte?

Das Recht der Strafzumessung ist im Detail komplex und wird von vielen Faktoren, insbesondere den Feststellungen im Laufe des gerichtlichen Verfahrens, beeinflusst. Das mögliche Strafmaß in der Causa Braun richtet sich zunächst nach den einschlägigen Straftatbeständen und deren Verhältnis zueinander. Von den Markus Braun vorgeworfenen Straftaten weisen die gewerbs- und bandenmäßige Marktmanipulation (§ 119 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 WpHG) und der gewerbsmäßige Bandenbetrug (§ 263 Abs. 1, Abs. 5 StGB) mit Freiheitsstrafe von 1-10 Jahren den höchsten Strafrahmen auf. Daneben sehen die unrichtige Darstellung (§ 331 Abs. 1 HGB) eine Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe und die Untreue (§ 266 Abs. 1 StGB) eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe vor. Sollte das Gericht – wie von der Staatsanwaltschaft angeklagt – zu dem Ergebnis gelangen, dass die Tatbestände in Tatmehrheit verwirklicht worden sind, dann würde auf eine Gesamtstrafe erkannt, die sich aus den Einzelstrafen für jede einzelne Gesetzesverletzung zusammensetzt (§ 53 Abs. 1 StGB). Die von allen Einzelstrafen höchste Strafe würde die untere Grenze des Strafrahmens für die Gesamtstrafe festlegen, während die obere Grenze die Summe aller Einzelstrafen darstellte, die allerdings bei Freiheitsstrafen 15 Jahre nicht übersteigen darf (vgl. § 54 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 StGB). Vorausgesetzt, eine Verurteilung erfolgt nach dem Höchstmaß etwa von gewerbs- und bandenmäßiger Marktmanipulation oder gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, so würde der maximale Strafrahmen im Falle von Tatmehrheit bei 10 bis 15 Jahren Freiheitsstrafe liegen. Lassen sich abgesehen von der gewerbs- und bandenmäßigen Marktmanipulation oder des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs einige der angeklagten Delikte nicht nachweisen, so dass auch Tateinheit in Betracht käme, so bestimmte sich die maximale Strafhöhe nach dem Strafgesetz mit der schwersten Strafandrohung (§ 52 Abs. 2 S. 1 StGB), wäre also auf 10 Jahre Freiheitsstrafe gedeckelt.

Naheliegender ist es jedoch, dass das Gericht bei den Einzelstrafen nicht das Höchstmaß ausschöpft. Denn die konkrete Strafe, die sich innerhalb des Strafrahmens bewegen muss, ergibt sich aus einer wertenden Gesamtbetrachtung aller zugunsten und zulasten des Angeklagten sprechenden Umstände (vgl. § 46 Abs. 2 StGB). Dabei gehen die Tatgerichte für den Durchschnittswert der Tatschwere als „Regelfall“ grundsätzlich von einem Bereich unterhalb der Mitte des Strafrahmens aus. Deshalb kommt es selten zur Verhängung der maximalen Höchststrafe(n). Das konkrete Strafmaß hängt dann schließlich von den im Strafverfahren festgestellten entlastenden und belastenden Umständen ab.

Was ist im Falle einer Verurteilung die mögliche Höchststrafe? In den Medien findet man dazu immer wieder unterschiedliche Angaben, die von 10 Jahren bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe reichen.

Wie erläutert kommen als maximale Höchststrafen bei Tatmehrheit 15 Jahre und bei Tateinheit 10 Jahre Freiheitsstrafe in Betracht. Voraussetzung dafür ist, dass die angeklagten Delikte, die diese Strafhöhen ermöglichen, nachgewiesen werden. Eine seriöse Prognose über das konkrete Strafmaß ist angesichts der Vielzahl möglicher entlastender (z.B. fehlende Vorstrafen, Geständnis, fehlende bzw. unzureichende Kontrolle) und belastender Umstände (z.B. Schadenshöhe, Anzahl der Geschädigten, kriminelle Energie), die erst im Verlauf des Strafverfahrens festgestellt und bewertet werden, auch im Hinblick auf die Singularität und Komplexität des Wirecard-Sachverhalts nicht möglich.

Die Verteidigung hat den Antrag gestellt, dass die urteilenden Richter und Laienrichter Auskunft darüber geben sollen, ob sie zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Wirecard AG im Besitz von Aktien der Wirecard AG oder Derivaten darauf waren. Das Gericht hat diesen Antrag mit Verweis, dass es eine solche Auskunftspflicht nach der StPO nicht gebe, abgelehnt. Müsste aus Ihrer Sicht das Gericht diesem Auskunftsverlangen nachkommen? Welche Konsequenzen könnte es haben, falls das Gericht dies weiterhin nicht macht?

Bei dem von der Verteidigung gestellten Antrag handelt es sich um ein zulässiges Auskunftsbegehren mit dem Ziel, herauszufinden, ob es ausreichend Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Ausschluss- oder Ablehnungsgrundes gemäß §§ 22, 24 StPO für einen der Richter gibt. Nach § 22 Nr. 1 StPO ist ein Richter kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen, wenn er selbst Verletzter der Straftat ist. Dies könnte der Fall sein, wenn Richter und/oder Schöffen im Wirecard-Prozess zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Wirecard AG Aktionäre des Unternehmens gewesen sind. Dann käme eine Ablehnung des betroffenen Richters oder Schöffen nach § 24 Abs. 1 StPO in Betracht. Da die Verteidigung einen solchen Ausschluss- oder Ablehnungsgrund nur geltend machen kann, wenn sie von ihm Kenntnis besitzt, ist es der Verteidigung gestattet, ein entsprechendes Auskunftsbegehren in der Form eines begründeten Antrags an das Gericht zu stellen. Allerdings besteht nach der StPO für die Richter und Laienrichter keine Pflicht zur dienstlichen Äußerung, ein Anspruch auf Auskunft besteht folglich nicht. Damit bleibt es dem Gericht unbenommen, das Gesuch ohne Konsequenzen abzulehnen. Da eine ablehnende Entscheidung auch nicht beschwerdefähig ist, verbleibt der Verteidigung in diesem Fall nur die Möglichkeit, durch eigene Nachforschungen zu entsprechenden Erkenntnissen zu gelangen.

Der Fall Comroad und der Wirecard-Prozess

Die Staatsanwaltschaft hat im Wirecard-Prozess die Einziehung von Vermögen nach §§ 73, 73c StGB von einer Beteiligungsgesellschaft von Markus Braun und weiteren Gesellschaften gefordert, über die Gelder von der Wirecard AG abgeflossen sein sollen. Der Insolvenzverwalter und geschädigte Anleger haben in Zivilverfahren ebenfalls Ansprüche auf die Gelder geltend gemacht. Im Falle einer Einziehung würde der Freistaat Bayern diese Gelder bekommen. Würden in diesem Fall Ansprüche der Anleger und des Insolvenzverwalters nachrangig sein, also die Gläubiger leer ausgehen, wie damals im Fall Comroad?

Der Fall Comroad aus dem Jahr 2002 ähnelt nur im Sachverhalt dem Wirecard-Verfahren. Dort ging es ebenfalls um eine Aktiengesellschaft, die mittels gefälschter Umsatzzahlen und geschönter Bilanzen zur Schädigung einer Vielzahl von Aktionären beitrug, während die entsprechenden Jahresabschlüsse von einem großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen lange Zeit unbeanstandet blieben. Der Gründer des Unternehmens, Bodo Schnabel, wurde in der Folge zu sieben Jahre Haft, u. a. wegen gewerbsmäßigen Betruges, verurteilt. Im Rahmen diverser Zivilverfahren wurde nur ein Teil der geprellten Anleger entschädigt. Anders als heute, war die (strafrechtliche) Opferentschädigung aber damals noch in Form der sog. „Rückgewinnungshilfe“ ausgestaltet. Bei dieser war die Abschöpfung deliktisch erlangter Vermögenswerte ausgeschlossen, soweit dem Verletzten ein zivilrechtlicher Anspruch aus der Tat zustand (vgl. § 73 Abs. 1 S. 2 StGB aF). Insbesondere im Rahmen von Vermögensdelikten, also z. B. Betrugstaten, war die staatliche Abschöpfung deliktisch erlangter Vermögenswerte damit gesperrt. Die Strafjustiz hatte in diesen Fällen lediglich die Möglichkeit, Vermögenswerte des Tatverdächtigen vorläufig für die Verletzten zu sichern. Für die Durchsetzung ihrer Ansprüche mussten die Tatgeschädigten hingegen selbst sorgen. Sie mussten einen zivilrechtlichen Titel erstreiten, auf dessen Grundlage sie die Zwangsvollstreckung in die von der Strafjustiz gesicherten Vermögensgegenstände betreiben konnten. Zusätzlich hing die Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche von einer gesonderten strafprozessualen Zulassung der Zwangsvollstreckung ab (vgl. § 111g Abs. 2 StPO aF). Bei mehreren Verletzten galt der Prioritätsgrundsatz, der nicht selten zu einem „Windhundrennen“ und dem Ergebnis führte, dass ein Verletzter vollständige oder weitgehende Befriedigung erlangte, während andere Tatopfer leer ausgingen. Hinzu kam, dass viele Geschädigten die Kosten und den Aufwand für das komplizierte und mit Unsicherheiten behaftete Verfahren scheuten und deshalb darauf verzichteten, ihre Ansprüche geltend zu machen. Dieser für viele als unbefriedigend empfundene Zustand war einer der Hauptgründe des Gesetzgebers, das Recht der Vermögensabschöpfung 2017 umfassend zu reformieren.

Seit der Reform können Taterträge oder ein deren Wert entsprechender Geldbetrag jedoch unabhängig davon abgeschöpft werden, ob zivilrechtliche Entschädigungsansprüche von Verletzten im Raum stehen. Der Staat erwirbt nunmehr in allen Fällen, in denen Täter (mutmaßlich Markus Braun) oder ein Drittbegünstigter (dessen Gesellschaften, § 73b StGB) durch eine Straftat etwas erlangen, einen eigenen strafrechtlichen Anspruch auf Einziehung des Tatertrages oder dessen Wertes (Wertersatzeinziehung nach §§ 73, 73c StGB, um die es bei Wirecard alleine geht). Dieser Anspruch kann durch eine Wertersatzeinziehungsanordnung des Gerichts tituliert und bis zur rechtskräftigen Anordnung der Vermögensabschöpfung durch Vermögensarrest (§ 111e StPO) gesichert werden.

Die Ansprüche der Verletzten hingegen werden bei erfolgter Einziehung erst außerhalb des Strafverfahrens entweder im Strafvollstreckungsverfahren (vgl. § 459h StPO) oder im Insolvenzverfahren (vgl. § 111i StPO) befriedigt. Das richtet sich bei mehreren Verletzten wie im Fall Wirecard danach, ob die gesicherten Vermögenswerte zur Entschädigung der Verletztenansprüche ausreichen (Deckungsfall) oder nicht (Mangelfall). Im Deckungsfall findet bei einer durch Vermögensarrest gesicherten Wertersatzeinziehung die Entschädigung der Verletzten im Strafvollstreckungsverfahren statt (§ 459h Abs. 2 StPO). Das in Vollziehung des Vermögensarrestes entstehende Sicherungsrecht des Staates ist grundsätzlich insolvenzfest (§ 111h Abs. 1 StPO). Zwangsvollstreckungen durch einzelne Verletzte oder Gläubiger in gesicherte Gegenstände sind während der Dauer der Arrestvollziehung nicht zulässig mit Ausnahme für Ansprüche des Fiskus aus Steuerstraftaten, die im Fall Wirecard allerdings derzeit nicht angeklagt sind (§ 111h Abs. 2 StPO). Das sichert den Vorrang der Tatverletzten vor anderen Gläubigern und die Gleichbehandlung der Tatgeschädigten im Strafvollstreckungsverfahren. Mit Rechtskraft der Wertersatzeinziehung erwirbt der Staat einen vollstreckbaren Zahlungsanspruch gegen den Einziehungsadressaten (Tatbeteiligter bzw. Drittbegünstigter). Die Entschädigung der Verletzten erfolgt durch Auskehrung des Verwertungserlöses im Verfahren nach § 459k StPO. Darüber hinaus kann ein Verletzter seinen Schadensersatzanspruch – auch nach Ablauf der sechsmonatigen Anmeldefrist des § 459k Abs. 1 StPO – zivilrechtlich titulieren lassen und ihn auf dieser Grundlage bei der Vollstreckungsbehörde durchsetzen (vgl. § 459k Abs. 5 StPO).

Im Mangelfall werden die individuell Verletzten in dem für die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners vorgesehenen Insolvenzverfahren (vgl. § 111i StPO und § 17 InsO) entschädigt, sofern ein Insolvenzverfahren eröffnet werden kann (vgl. § 111i Abs. 2 S. 2 StPO). Die Wirkungen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf das in Vollziehung eines Vermögensarrestes begründete staatliche Sicherungsrecht richten sich danach, welche Rechtsgüter die Erwerbstaten, aus denen Täter oder Drittbegünstigte etwas erlangt haben und wegen derer der Vermögensarrest angeordnet wurde, schützen. Zu unterscheiden sind Delikte zum Schutz der Allgemeinheit wie die Marktmanipulation, welche die Integrität und Stabilität der Finanzmärkte als Universalrechtsgut schützt, und Delikte zum Schutz von Individualrechtsgütern wie Betrug und Untreue, welche das Individualvermögen schützen. Sind wie im Fall Wirecard nicht nur Delikte zum Schutz der Allgemeinheit, sondern auch Delikte zum Schutz von Individualrechtsgüter angeklagt und erfolgt der Vermögensarrest auch wegen dieser Erwerbstaten, so erlischt das staatliche Sicherungsrecht nach § 111h Abs. 1 StPO an dem Gegenstand oder an dem durch dessen Verwertung erzielten Erlös, sobald dieser vom Insolvenzbeschlag erfasst wird. Nach neuem Recht würden folglich im Wirecard-Prozess eingezogene Erträge bzw. Erlöse an die im Urteil und der Einziehungsanordnung rechtskräftig festgestellten Verletzten quotal ausgekehrt, sofern sie ihre Ansprüche gem. § 359k Abs. 1 StPO fristgerecht anmelden. Eine Rangfolge zwischen den Verletzten oder zwischen Verletzten und dem Staat gibt es nicht (mehr). Etwas Anderes würde nur gelten, wenn letztlich ein Vermögensarrest wegen Wertersatzeinziehung allein aufgrund eines Deliktes zum Schutz von Universalrechtsgütern erfolgen würde, weil das dadurch begründete Sicherungsrecht auch bei Eröffnung eines Insolvenzverfahrens Bestand hätte (§ 111h Abs. 1 S. 2 StPO) und zur abgesonderten Befriedigung nach §§ 49, 50 InsO berechtigte.

Davon abgesehen besteht für alle Geschädigten parallel die – bereits vielfach genutzte – Möglichkeit, im Wege von zivilrechtlichen Schadensersatzklagen, bspw. gegen die EY Wirtschaftsprüfungsgesellschaft oder gegen Markus Braun persönlich, Entschädigungen geltend zu machen. Diese Fragen haben aber, wie auch solche des Insolvenzverfahrens, zunächst nichts mit dem Strafverfahren und den damit zusammenhängenden Einziehungsfragen zu tun.

Bild von 2541163 auf Pixabay

AnlegerPlus