Prof. Dr. Friedrich Heinemann
Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts war ein Paukenschlag und geht in die Rechtsgeschichte ein: Am 5. Mai hat das oberste deutsche Gericht das Anleihekaufprogramm PSPP (Public Sector Purchase Programme) der EZB als Verstoß gegen europäisches Recht gewertet. Das Urteil hat erhebliche indirekte Folgen gerade auch für das seit März laufende PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme).
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war an Deutlichkeit nicht zu überbieten: Die EZB überschreite mit diesen Staatsanleihekäufen ihre Kompetenzen, die auf die Geldpolitik beschränkt sind. Der Europäische Gerichtshof hatte zuvor die PSPP-Käufe als unbedenklich durchgewunken. Damit hat sich das oberste deutsche Gericht viel Kritik eingehandelt. Karlsruhe schädige Europa, wenn es sich nicht der Rechtsprechung des obersten europäischen Gerichts unterordne, so einer der Vorwürfe.
Diese scharfe Kritik am Bundesverfassungsgericht ist nicht gerechtfertigt. Ganz im Gegenteil hat Karlsruhe Europa einen Dienst erwiesen und die Grenzen einer gerade noch gerechtfertigten Aktivität der EZB im Markt für Staatsanleihen klarer aufgezeigt. Das Gericht liegt dabei mit der Feststellung richtig, dass der Europäische Gerichtshof sehr unkritisch ist und die möglichen schädlichen Nebenwirkungen der massiven Anleihekäufe durch die EZB und die nationalen Zentralbanken zu wenig beachtet. Das deutsche Gericht hat in seinem Urteil dennoch Augenmaß bewiesen und der Deutschen Bundesbank nicht mit sofortiger Wirkung untersagt, an den Käufen von Staatsanleihen weiter mitzuwirken. Stattdessen hat es die EZB dazu verpflichtet, eine sorgfältige Prüfung der Risiken ihrer Politik vorzunehmen.
Deutliches Signal
Dieser Auflage ist der EZB-Rat inzwischen mit den nachgelieferten Erklärungen faktisch nachgekommen. Doch damit ist der Fall keineswegs abgehakt. Denn der Karlsruher Spruch hat die Perspektive der EZB-Anleihekäufe verändert. Es ist deutlicher als je zuvor geworden, dass sich Europas Zentralbank mit ihrem massiven Einstieg in den Markt für Euro-Staatsanleihen in einer dunkelroten Zone des europarechtlich Erlaubten bewegt. Das Signal ist überdeutlich: Karlsruhe wird auch bei neuen Verfahren sehr kritisch hinschauen und nicht einfach akzeptieren, was die Richter-Kollegen in Luxemburg sagen, die traditionell europäische Institutionen vor Vorwürfen der Kompetenzüberschreitung in Schutz nehmen.
Der EZB-Rat darf es sich in Zukunft in seinen Abwägungen nicht mehr so leicht wie bisher machen. Beim PSPP, so die Feststellung aus Karlsruhe, hat der Rat negative Rückwirkungen wie die wachsende Abhängigkeit der EZB von der Politik hoch verschuldeter Mitgliedstaaten nicht angemessen in Betracht gezogen. Das gibt den Skeptikern im EZB-Rat Rückendeckung, die wie der deutsche Bundesbankpräsident Jens Weidmann immer wieder vor zu hohen und zu lang anhaltenden Käufen warnen.kann Simon Property im Schnitt Mieten fordern, die um 14,4 % höher liegen.
Das Urteil hat damit auch Implikationen für die neuen massiven Staatsanleihekäufe, welche die EZB seit März zur Bekämpfung der Coronarezession unternimmt: das PEPP. Diese Konsequenzen werden an den Finanzmärkten noch viel zu wenig beachtet.
Ruhige Märkte
So herrscht an den Märkten für Euro-Staatsanleihen eine scheinbar verblüffende Ruhe. Obwohl die Volkswirtschaften von Italien und Spanien in diesem Jahr um 10 % oder mehr abstürzen und die Staatsdefizite neue Rekordstände erreichen, sind die Renditen auf Staatsanleihen dieser Länder auf historische Tiefstände gefallen. Ursache dafür sind die massiven neuen Staatsanleihekäufe unter dem PEPP-Ankaufsprogramm. Der EZB-Rat hat bislang PEPP-Käufe im Umfang von 1,35 Billionen Euro angekündigt. Zum Jahresende 2020 wird das Eurosystem de facto ein Viertel der gesamten Staatsverschuldung der Eurozone in die eigenen Bilanzen übernommen haben.
Diese umfassenden Staatsanleihekäufe mögen in der akuten Coronakrise gerechtfertigt sein. Von großer Bedeutung ist aber die Karlsruher Botschaft für die Zeit nach der Coronakrise. Wer das Urteil vom 5. Mai zum PSPP liest und die Argumente auf das PEPP anwendet, kann keinen Zweifel haben: Eine Fortdauer von PEPP nach dem Ende der Coronakrise wäre ein Verstoß gegen das Europarecht. Denn PEPP hat eine ganze Reihe von Sicherheitsvorkehrungen, die beim PSPP noch bestanden, außer Kraft gesetzt.
Erstens hat die EZB im PSPP nur Anleihen von Ländern gekauft, die ein Mindestmaß an Bonität aufweisen. Sonst würden sich diese Käufe noch viel näher an der von den EU-Verträgen verbotenen monetären Staatsfinanzierung bewegen. Mit PEPP ist diese Barriere gefallen und das Eurosystem kauft seit März z. B. auch Griechenland-Anleihen.
Zweitens hat sich der EZB-Rat im PSPP dazu verpflichtet, die Staatsanleihekäufe auf die Euro-Staaten proportional zum EZB-Kapitalschlüssel zu verteilen. Damit sollte gewährleistet werden, dass nicht einzelne hoch verschuldete Staaten besonders von der Schützenhilfe der Geldpolitik profitieren. Denn auch das wäre ein Indiz dafür, dass die EZB nicht länger einfach nur Geldpolitik betreibt, sondern de facto eher die reibungslose Finanzierung von hohen Staatsschulden im Blick hat. Mit dem PEPP hat der Rat nun die Kapitalschlüsselorientierung als verbindliche Orientierung außer Kraft gesetzt. Tatsächlich weisen die Staatsanleihekäufe seit März ein ganz erhebliches Ungleichgewicht auf. Die hoch verschuldeten Länder Italien, Spanien, Frankreich und Belgien werden im Vergleich zum EZB-Kapitalschüssel stark überproportional gekauft.
Drittens hatte sich die EZB unter dem PEPP verpflichtet, von einzelnen Anleihemissionen und von einzelnen Emittenten unter keinen Umständen mehr als 33 % zu kaufen. Diese „Emissions-“ und „Emittentengrenzen“ sind juristisch bedeutsam. Denn wenn die Zentralbanken Bestände oberhalb von diesen Grenzen erwerben, haben sie ein Vetorecht, wenn es in Zukunft zu Abstimmungen der Anleihegläubiger zur Umschuldung einer Anleihe kommt. Das Eurosystem würde also bei Beständen oberhalb dieser Grenzen zum strategischen Investor, von dessen Entscheidung es abhängen wird, ob ein Land eine Umschuldung seiner Staatsanleihen vornehmen darf oder nicht. Auch das wäre ein Zeichen dafür, dass die Zentralbank de facto Schuldenfinanzierung betreibt. Mit dem PEPP sind nun auch diese Auflagen außer Kraft gesetzt.
Wichtige Sicherungen
Betrachtet man die massive Lockerung von Sicherheitsauflagen im PEPP gegenüber dem PSPP, wird deutlich, dass sich der Abstand zur verbotenen monetären Staatsfinanzierung verringert hat. Dies gilt bemerkenswerterweise nicht nur bei Lektüre des Karlsruher Urteils, sondern gerade auch im Hinblick auf das PSPP-Urteil aus Luxemburg. Denn der Europäische Gerichtshof und das nationale Verfassungsgericht waren sich bei allem Dissens in einem Punkt sehr einig: Die Kapitalschlüsselorientierung, die Bonitäts-Mindestanforderungen und die Emissions- und Emittentengrenzen des PSPP sind wichtige Sicherungen, die gegen eine monetäre Staatsfinanzierung sprechen. Weil all diese Grenzen nun gefallen sind, ist völlig klar, wie brisant die PEPP-Regeln sind.
Insgesamt ist das Karlsruher Urteil vom 5. Mai daher für die Zukunft der PEPP-Anleihekäufe vielleicht noch bedeutsamer als für das seit 2015 laufende PSPP. Denn die Botschaft ist: Karlsruhe wird sich einer klaren Aufweichung europarechtlicher Vorgaben widersetzen. Das PEPP ist in der akuten Coronakrise möglicherweise gerade noch akzeptabel, muss danach aber enden. Wie in Zukunft die horrenden Schuldenstände in Südeuropa dann ohne kontinuierliche Zentralbankkäufe finanzierbar sein können, ist vielleicht eine der spannendsten Fragen, mit den Europas Anleihemärkte in den kommenden Jahren konfrontiert sein werden.
Zum Autor
Prof. Dr. Friedrich Heinemann leitet den Forschungsbereich Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Er lehrt Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg und ist u. a. Präsidiumsmitglied des Arbeitskreises Europäische Integration, Berlin, und Mitglied des Kuratoriums des Instituts für Europäische Politik, Berlin. Außerdem ist er Berater der Arbeitsgruppe Europa der Deutschen Bischofskonferenz.
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