Viele Anleger mussten an der Börse schon diese Erfahrung machen: Auf dem Weg nach oben nehmen die Aktienkurse die Treppe und nach unten fahren die Notierungen mit dem Aufzug. Doch warum ist das eigentlich so?
Jeder Anleger hat Aktien im Depot, für deren Kursanstieg das Motto gilt, „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“, aber immerhin, der Weg zeigt nach oben. Doch nicht immer ist die Entwicklung so stabil, wie sie in dieser Zeit aussieht. Manchmal kommt plötzlich eine heftige Bewegung nach unten, die viel schneller und heftiger ausfällt als der vorherige Anstieg. Innerhalb kürzester Zeit wird eine Kursspanne abverkauft, für die der Anstieg weitaus länger benötigt hat.
Dieses Verhalten ist sowohl bei einzelnen Aktien zu beobachten, sogar wenn mitunter nur leicht enttäuschende Zahlen bekannt gegeben werden, als auch am Gesamtmarkt, wenn die breite Masse wie zuletzt im Frühjahr 2020 während Corona auf dem falschen Fuß erwischt wird.
Asymmetrische Volatilität
Abseits dieser offensichtlichen, praktischen Erfahrung ist es gar nicht so einfach, dieses Verhalten theoretisch zu begründen. Denn wären die Märkte (halbwegs) effizient, sollten die Kurse doch in etwa gleich stark auf gute wie schlechte Nachrichten reagieren.
Die Tatsache, dass dem nicht so ist, nennt man asymmetrische Volatilität: Der Aktienmarkt neigt dazu, bei fallenden Kursen deutlich stärker zu schwanken als bei steigenden Kursen. Die Ursache dieses Effekts liegt auf der Hand: Menschen reagieren emotional viel stärker auf Kursverluste als auf Kursgewinne. Die Stichworte sind dabei Angst und Panik.
An den Optionsmärkten lässt sich diese Asymmetrie sogar in ruhigen Börsenphasen beobachten: Die impliziten, in den Optionskursen eingepreisten Volatilitätserwartungen sind bei Puts höher als bei Calls.
Weitere Erklärungen
Zwar ist nicht ganz klar, ob dieser Verhaltenseffekt das Phänomen tatsächlich umfassend erklären kann, aber es liegt nahe. Denn es gibt noch weitere Gründe für das Phänomen, die ebenfalls zur Erklärung beitragen und dabei auf ganz ähnliche Art und Weise mit dem Verhalten der Menschen zusammenhängen:
- Schlechte Nachrichten verbreiten sich schneller als gute. Entsprechend ist davon auszugehen, dass schlechte Nachrichten, wenn sie erst mal in Umlauf gekommen sind und als bedrohlich wahrgenommen werden, auch schneller eingepreist sind.
- Für neue Aktienkäufe bei steigenden Kursen ist zunehmend mehr Cash nötig, um die Positionen erwerben zu können. Das Aufbringen dieser Mittel bedarf häufig einer bestimmten Zeit, zum Beispiel für das Sparen vom Gehalt. Käufe sind für viele Anleger daher nur sukzessive im Zeitablauf möglich. Verkäufe dagegen sind sofort umsetzbar, da hierfür kein Cash nötig ist, sondern nur ein schnelles Drücken auf die richtige Taste. Es kann also oft nur langsam gekauft, aber stets schnell verkauft werden.
- Die meisten Anleger sind long positioniert und erwarten steigende Kurse. Einige Investoren aus dieser Gruppe sind für möglichst hohe Gewinne gehebelt unterwegs und sichern ihre Positionen nach unten hin durch Stopps ab, bei deren Erreichen die jeweiligen Aktien oder Futures automatisch verkauft werden. Liegen viele solcher Stopps an markanten technischen Schwellenwerten, kann durch deren Auslösen eine zusätzliche Abwärtswelle entstehen.
- Vertrauen entsteht langsam und verschwindet schnell. Anleger, die ihr Geld in klassische Investmentfonds gesteckt haben, ziehen es in Verlustphasen mitunter wieder ab. Dieses Verhalten kann Fondsmanager dazu zwingen, Positionen zu ungünstigen Zeitpunkten (nämlich nach Kursverlusten) zu verkaufen, um die Anleger auszahlen zu können. Aus diesem Verkaufsdruck können sich weitere Kursverluste ergeben, die weitere Anleger zum Ausstieg motivieren usw.
- Es ist kein Geheimnis, dass die Kurse schneller steigen, als sie fallen. Gibt es also eine starke Abwärtsbewegung, werden alle vorsichtiger. Wenn es kracht, möchte schließlich jeder möglichst früh am Drücker sein. Problematisch wird es, wenn zusätzlich Liquiditätsengpässe wie etwa im Dezember 2018 auftreten. Dann steigt die Gefahr, dass sich einzelne Marktteilnehmer in die Ecke gedrängt fühlen und „zu jedem Preis“ verkaufen.
Ein schneller, starker Kursrutsch kann durch Rückkopplungseffekte, die über mehrere Runden auftreten, bei immer mehr Anlegern zu Angst und Panik führen. Im schlimmsten Fall entstehen daraus ein Teufelskreis und Kettenreaktionen, bei dem sich die genannten Faktoren gegenseitig verstärken. Dann spricht man landläufig von einem Crash. Und wenn das passiert, liegt meist eine hervorragende Kaufgelegenheit vor! Man muss sich dann „nur“ trauen, gegen die Masse zu handeln. Doch das ist leichter gesagt als getan.
Fazit
Die asymmetrische Volatilität ist ein gutes Beispiel dafür, wie unsere Verhaltenseffekte dazu beitragen, die Märkte ineffizient zu machen. Wer die beschriebenen Mechanismen und vor allem seine eigenen Verhaltenseffekte durchschaut, kann sich dagegen wappnen, während eines Crashs in Angst und Panik zu verfallen und zum Opfer eines Teufelskreises zu werden – und stattdessen sogar davon profitieren.
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