Von Olivier Kessler, Ökonom, Publizist und Direktor des Liberalen Instituts in Zürich
Dass ein reiner Kapitalismus nicht funktionieren würde, ist ein Klischee, das sich hartnäckig hält. Es brauche den Staat, der die Wirtschaft in die richtigen Bahnen lenke und öffentliche Güter zur Verfügung stelle, heißt es. Ein planloser Markt würde die Gesellschaft aufgrund von „Marktversagen“ nicht ausreichend mit diesen wichtigen Gütern versorgen.
Der Kapitalismus ist nicht gleichzusetzen mit einem chaotischen Zustand der Gesetzlosigkeit. „Kapitalismus“ ist vielmehr die Bezeichnung für eine Ordnung, in der das Privateigentum geschützt ist, die Produktionsmittel sich in privaten Händen befinden und in der Menschen mit ihren Eigentumstiteln auf Märkten frei handeln dürfen. Es gibt also im Kapitalismus durchaus Regeln – wenn auch mitnichten so viele wie im heutigen überregulierten semisozialistischen Mischsystem.
Im reinen Kapitalismus müsste man sich nicht dauernd davor fürchten, dass der Staat einem sein rechtmäßiges Eigentum willkürlich enteignet – etwa durch Inflationierung oder Besteuerung – und durch Überregulierung in seiner Nutzung übermäßig beschränkt. Man muss sich auch nicht sorgen, dass die Spielregeln laufend einseitig durch den Staat angepasst werden: Das Tätigkeitsfeld der Politik wäre klar begrenzt und eng umrissen.
Die Aufgabe des Staates besteht in einem solchen System darin, die Eigentumsrechte der Bürger zu schützen. Wobei unter „Eigentum“ nicht nur die rechtmäßig erworbenen materiellen Besitztümer zu verstehen sind, sondern auch das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit. Aus dieser Regel erwachsen eine höhere Rechtssicherheit, eine bessere individuelle Planbarkeit und mehr Stabilität.
Je besser das Privateigentum geschützt wird, desto stärker prosperiert das entsprechende Land und desto stabiler ist es. Jahr für Jahr wird dieser Befund vom Index der Eigentumsrechte aufs Neue bestätigt. Weltweit führen besser geschützte Eigentumsrechte zu einem höheren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, verstärken die Direktinvestitionen und führen auch zu einem höheren Wirtschaftswachstum.
Im ersten Fünftel der Staaten mit den am besten gesichertsten Eigentumsrechten war das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr 2021 mit durchschnittlich 58.570 US-Dollar mehr als 19-mal höher als im letzten Fünftel des Index, wo das Durchschnittseinkommen pro Kopf nur 3.057 US-Dollar betrug.
Wer Kapitalismus mit Chaos gleichsetzt, hat sich nie die Mühe gemacht, historische Fakten zu untersuchen. Chaos entstand geschichtlich betrachtet vor allem in jenen Ländern, in denen der Kapitalismus hätte abgeschafft oder überwunden werden sollen. In solchen revolutionären oder demokratisch beschlossenen Angriffen auf die freie Marktwirtschaft entstanden jeweils großes Leid, Elend und Massenarmut. Oftmals begleitet von schrecklicher Gewalt, Verfolgung von Minderheiten und Massenmorden.
Freie Märkte funktionieren wunderbar, solange das Eigentum der Bürger geschützt und damit die Vertragsfreiheit für alle gewährleistet ist. Wichtige Leistungen wie Bildung, Medien oder Vorsorge bedürfen keines Zwangs oder staatlicher Initiative, damit diese angeboten werden. Sie werden ganz natürlich und freiwillig von den Marktteilnehmern nachgefragt, weil sie nachvollziehbare menschliche Bedürfnisse befriedigen.
Wo es eine Nachfrage gibt, entstehen in der Regel auch Angebote. Auch dies zeigt die Geschichte: Heute unhinterfragt als „öffentliche Güter“ klassifizierte Leistungen von Schulen bis hin zur Hilfe für die Armen, Alten und Kranken sind sämtlich Leistungen, die historisch betrachtet oft von privaten Unternehmen oder privaten Hilfswerken angeboten wurden. Die Behauptung, solche Güter würden vom freien Markt nicht bereitgestellt, wurde also längst von der Geschichte entkräftet.
Dieser Artikel stammt aus der AnlegerPlus-Ausgabe 8/2022.
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