Der britische Ökonom John Maynard Keynes verglich die Finanzmärkte einst mit einem Schönheitswettbewerb. Dieser „Beauty Contest“ wurde zum Fachbegriff und war später eines der Konzepte, die George Soros zu seiner Reflexivitätstheorie inspirierten.
Was hat ein Schönheitswettbewerb mit der Börse zu tun? Auf den ersten Blick überhaupt nichts. Doch schon im Jahr 1936 schrieb der bekannte Ökonom John Maynard Keynes in seinem Buch „The General Theory of Employment, Interest and Money“ über eine erstaunliche Parallele, was das Verhalten der Akteure angeht.
Inhalt
Als Menschen haben wir ein Bewusstsein, das uns in die Lage versetzt, Ereignisse zu antizipieren. Wir beobachten, was geschieht, und können vorausahnen, wie sich andere Marktteilnehmer wahrscheinlich verhalten werden. Daraus lässt sich ein Vorteil ziehen, indem man das erwartete Verhalten der Masse in die eigene Entscheidung einbezieht. Um das zu veranschaulichen, beschrieb Keynes einen Schönheitswettbewerb. Der Vergleich ist so treffend, dass „Beauty Contest“ heute noch als Fachbegriff für das Antizipieren an den Finanzmärkten verwendet wird.
Was denken die anderen?
Stellen wir uns folgenden Schönheitswettbewerb vor. Es gibt 100 Kandidaten, aus denen wir als Jurymitglied die sechs schönsten Personen auswählen sollen. Es ist ein Preis für denjenigen ausgeschrieben, dessen Gesamtauswahl dem späteren Ergebnis – das auf Basis aller Stimmen ermittelt wird – am nächsten kommt.
Das bedeutet: Man sollte nicht unbedingt die Personen auswählen, die uns persönlich am besten gefallen, sondern diejenigen, die unserer Einschätzung nach am wahrscheinlichsten von den meisten anderen ausgewählt werden. Man muss also antizipieren, was die anderen Jurymitglieder denken, und das bei der eigenen Entscheidung berücksichtigen.
Eine erstaunliche und paradoxe Konsequenz dessen ist, dass das Ergebnis nicht unbedingt dem entsprechen muss, was der Durchschnitt wirklich für die Schönsten hält. Denn wenn die Mehrheit der Jury glaubt, dass aufgrund spezieller Faktoren bestimmte Personen von vielen anderen als die schönsten ausgewählt werden, so gewinnen diese am Ende auch – selbst dann, wenn die meisten Jurymitglieder diese in Wahrheit nicht für die Schönsten hielten.
Wir müssen bei unserer Einschätzung also zwei Stufen unterscheiden:
- Stufe 1: Wen wir selbst für die Schönsten halten
- Stufe 2: Von wem wir glauben, dass die meisten anderen sie für die Schönsten halten
Doch es gibt noch eine dritte Stufe. Es ist nämlich denkbar, dass alle Teilnehmer sich ebenso positionieren. D. h., jeder Juror reflektiert und antizipiert, was die Jury im Durchschnitt als beste Auswahl erachtet. Auf Basis dessen könnte man zu dem Schluss kommen, dass diese Wahl „zu offensichtlich“ wäre und sich die meisten Jurymitglieder deshalb bewusst für andere Kandidaten entscheiden könnten, die vielleicht nicht gerade perfekt schön, aber dafür facettenreich und interessant wirken. Man antizipiert also die Antizipation der anderen. Oder wie Keynes schrieb: „Wir haben die dritte Stufe erreicht, bei der wir antizipieren, was die Durchschnittsmeinung von der Durchschnittsmeinung erwartet.“
Beauty Contest
Ein Jurymitglied findet persönlich die Kandidaten 1–6 am schönsten (Stufe 1), geht aber davon aus, dass die meisten anderen wahrscheinlich Personen mit kleiner, schmaler Nase wählen, und entscheidet sich deshalb für die Kandidaten 7–12 (Stufe 2). Die Krux ist hier, dass die Kandidaten 7–12 vielleicht gewinnen, obwohl das gar nicht das Schönheitsideal der meisten Jurymitglieder war – aber viele dachten, dass die anderen die Gesichter mit diesem Merkmal am schönsten finden und auswählen würden.
Stufe 3 nimmt dieses Ergebnis vorweg. Die Jurymitglieder denken, dass die anderen ebenso antizipieren – zum Beispiel, weil schon beim letzten Mal Kandidaten mit kleiner, schmaler Nase gewonnen haben. Deshalb werden vielleicht gerade nicht diese Gesichter häufig gewählt. Stattdessen könnten diesmal die Kandidaten 13–18 mit dem klassischen Schönheitsmerkmal besonders symmetrischer Gesichter gewählt werden. Spätestens hier geht die Objektivität natürlich zunehmend verloren und das ganze wird zu einem reinen Gedankenspiel, bei dem es darauf ankommt, wie viele Stimmen auf welcher Stufe der Antizipation basieren. Und das lässt sich im Vorhinein kaum abschätzen, sodass beim theoretischen Beauty Contest am Ende so ziemlich jeder gewinnen könnte.
Antizipieren an der Börse
Auch bei der Aktienauswahl kann es zu Antizipationsschleifen kommen. Das Prinzip funktioniert ganz ähnlich: Wir müssen bei Entscheidungen berücksichtigen, was der Durchschnitt der anderen Marktteilnehmer auf Basis einer bestimmten Entwicklung erwartet. Auf diese Erwartung sollte das eigene Handeln abgestimmt sein. Das kann durchaus im Widerspruch zu unserer isolierten Einschätzung stehen.
Angenommen, man möchte aus 100 Aktien die attraktivsten sechs für ein Portfolio wählen. Wie beim Beauty Contest kann das Denken auf verschiedenen Stufen erfolgen:
- Stufe 1: Man kauft die Aktien 1–6, die nach den eigenen, persönlichen Kriterien am attraktivsten sind.
- Stufe 2: Wir gehen davon aus, dass die Mehrheit in der aktuellen Marktphase auf wachstumsstarke Aktien setzt, und entscheiden uns deshalb für die Growth-Aktien 7–12. Allerdings müssen das nicht wirklich die attraktivsten Aktien sein. Es kann sein, dass viele diese Titel nur deshalb wählen, weil sie davon ausgehen, dass die meisten anderen sie auch kaufen.
- Stufe 3: Angenommen, die meisten Marktteilnehmer denken bereits auf Stufe 2. Es ist dann offensichtlich, dass man Growth-Aktien kaufen sollte. Doch vielleicht sind diese Titel genau deshalb inzwischen zu hoch bewertet und nicht mehr attraktiv. Die Mehrheit könnte sich nun entscheiden, die zuvor vernachlässigten, anhand fundamentaler Daten unterbewerteten Value-Aktien 13–18 zu kaufen.
Das Beispiel lässt erkennen, dass die psychologisch-strategische Ebene an der Börse eine große Bedeutung haben kann. Niemand weiß, auf welcher Antizipationsstufe das Ergebnis zustande kommt und wann die Wahrnehmung der Masse kippt. Es entsteht ein chaotisches System, in dem bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Trends auftreten, die sich immer wieder gegenseitig ablösen. Daraus entsteht die komplexe und kaum prognostizierbare Realität an den Märkten. Die erfolgreichsten Anleger versuchen dabei, zu antizipieren, was andere denken, um sich so einen Vorteil zu verschaffen. Das war auch der Rat von Keynes zum Thema Börsenerfolg: „Erfolgreiches Investieren bedeutet, die Erwartungen der anderen zu antizipieren.“
Fazit
Antizipationsschleifen sind nur möglich, weil es keine klaren und von allen Teilnehmern anerkannten Regeln gibt, denen jeder folgt – weder zur Einschätzung der Schönheit von Personen noch zur Attraktivität von Aktien. Zwar gibt es grobe Kriterien, mit denen sich die Extreme unterscheiden lassen, aber darüber hinaus herrscht hohe Unsicherheit. Zudem sind die Einschätzungen subjektiv, da jeder Mensch andere Präferenzen hat, die mit der individuellen (verzerrten) Wahrnehmung zusammenhängen. Gäbe es klare Naturgesetze wie in der Physik, würde dieser Effekt nicht auftreten.
Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe der AnlegerPlus News.
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