Dr. Georg Issels, Vorstand der Scherzer & Co. AG
Als Anleger gut durch die Covid-Zeiten zu kommen, ist bestimmt nicht einfach. Diese Erfahrung haben wohl die meisten Investoren in den letzten Monaten gemacht. Dennoch gibt es immer wieder interessante Gelegenheiten im Bereich der Sondersituationen.
Der wahre Wert einer Aktie lässt sich manchmal erst auf den zweiten, vielleicht sogar erst auf den dritten Blick erkennen. Gerade bei Sondersituationen ist es nicht immer einfach, direkt die Chancen zu entdecken, die im Verborgenen schlummern und sich häufig erst durch ein Ereignis oder eine Konstellation offenbaren. Neben dem „Hidden Value“ spielt dann häufig auch eine „Hidden Agenda“, also ein verdeckter Ablaufplan, eine Rolle.
AUDI AG: 30 Jahre im Dornröschenschlaf
Ein schönes Beispiel hierfür ist die Aktie der AUDI AG, die fast 30 Jahre lang in einem Dornröschenschlaf verweilte, da ihre Entwicklung durch einen Unternehmensvertrag mit verbundener Ausgleichszahlung in Höhe einer Volkswagen-Dividende geknebelt war. Erst die Neuordnung des VW-Konzerns, die auf eine Herausstellung der AUDI AG innerhalb des Unternehmensverbundes als forschende und entwickelnde Führungsgesellschaft abzielte, hat die Räder ins Rollen gebracht. Die Komplettintegration durch einen Squeeze-out, nicht zuletzt auch angestoßen aus der Transparenzoffensive und dem Fairplay des Konzernchefs Diess im Nachgang zum Dieselskandal, war die sichtbare Konsequenz. Das Bewertungsgutachten für den Squeeze-out kam zu einem Ergebnis, das tendenziell zu 100 % über den vorher gesehenen Kursen lag – das Warten hat sich hier gelohnt!
Rocket Internet SE: Unerhörter Abgang
Jüngst deutet sich eine neue Sondersituation an, die es in sich hat: Der Börsenrückzug der Rocket Internet SE. Auf der einen Seite unerhört: 2014 das IPO im Entry Standard (IPO-Preis 42,50 Euro), 2016 Wechsel in den Regulierten Markt inklusive MDAX-Mitgliedschaft und schließlich 2020 Börse ade mit einer Delisting-Abfindung zu 18,57 Euro. Auf der anderen Seite ein Buchwert von knapp unter 30 Euro, davon 18 Euro liquides Vermögen und dank einer Marktkapitalisierung von über 2 Mrd. Euro auch jederzeit sehr gut handelbar.
Die Brüder Samwer haben ihre eigene Agenda: Sollen doch die verschreckten institutionellen Anleger ihre Stücke bestens in den Markt werfen, da für sie eine Notiz im Freiverkehr im Nachgang zum Delisting nicht ausreichend ist. Da wird dann noch ein Aktienrückkaufprogramm zu 18,57 Euro initiiert, um schon direkt die herauskommende Ware billig aufzunehmen und den Wert der Aktien der Brüder gleich noch ein Stück mit zu erhöhen. Und ein ganz besonderes Schmankerl ist das Delisting-Abfindungsangebot zu gleichen Konditionen, das üblicherweise vom Großaktionär bestritten wird, hier aber von Rocket selbst erledigt wird. Rocket kauft sich selbst zu Discountpreisen zurück!
Alles nicht witzig für den Anleger, der schon beim IPO dabei war. Dafür aber interessant für den Neuinvestor, der jetzt auf Basis des Rückkaufangebotes mit minimalem Aufgeld einkaufen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Zukunft weitere Aktienrückkaufangebote geben wird (auf Sicht zu besseren Konditionen), ist sehr hoch. Gestreng dem Motto, dass die letzten Aktien die teuersten sind, kann sich hier eine besondere Chance auftun. Die Samwers können so, ohne ihr eigenes Portemonnaie öffnen zu müssen, ihren Anteil sukzessive erhöhen. Und am Ende steht dann der Squeeze-out, mit einem durch ein Gutachten bestimmten Abfindungspreis, der dann (hoffentlich) wohl eher dem wahren Wert entspricht. Bis dahin ist der Weg womöglich noch weit, aber potenziell auch lukrativ!
Zum Autor
Dr. Georg Issels, Jahrgang 1964, stammt aus Schwalmtal am Niederrhein, lebt in Köln, ist verheiratet und hat ein Kind. Der Diplom-Kaufmann (Universität zu Köln) ist seit 2002 Vorstand der Kölner Beteiligungsfirma Scherzer & Co. AG und seit 2008 Vorstand der ebenfalls in Köln beheimateten Beteiligungsfirma RM Rheiner Management AG. Zuvor war er bei der Stadtsparkasse Köln in den Bereichen Vermögensverwaltung und Corporate Finance/Treasury tätig.
Foto: © Scherzer & Co. AG