Von Prof. Volker Wieland, IMFS-Stiftungsprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt
Wir sind mitten in einem Umbruch – in vielerlei Hinsicht. Nicht nur mit Blick auf Verteidigung und Energiesicherheit, sondern auch hinsichtlich Inflation und Zinsen markiert das Jahr 2022 eine Zeitenwende.
Noch im Juli 2021 kam die EZB in ihrer Strategieüberprüfung zu dem Schluss, sie benötige vor allem einen Sicherheitspuffer gegen Deflation. Deshalb legte sie ein neues Inflationsziel von exakt 2 % fest. Bereits 2003 hatte die EZB mit diesem Argument durchaus zu Recht die ursprüngliche Zielzone von 0 bis 2 % mit der Formulierung „unter, aber nahe 2 %“ ersetzt. 2021 sorgte sich die EZB jedoch insbesondere, dass inzwischen der sogenannte reale Gleichgewichtszins deutlich gefallen sei. Deshalb sei künftig öfter mit Notenbankzinsen nahe 0 % zu rechnen. Um Deflation zu vermeiden, könne es sogar nötig sein, die Inflation vorübergehend über 2 % steigen zu lassen.
Zwar hatten sich die Risiken einer höheren Inflation schon im Frühjahr 2021 abgezeichnet und die Inflation stieg über das Jahr hinweg stetig an. Die EZB qualifizierte den Anstieg jedoch als vorübergehend und vermied es getreu ihrer neuen Strategie, ihre Geldpolitik zu straffen. Noch bis Ende November 2021 sprachen EZB-Vertreter davon, die größte Gefahr sei, dass die Inflationsrate bereits 2022 wieder unter Ziel fallen könne. Erst Mitte Dezember änderte sich die Einschätzung abrupt, als die EZB ihre Prognose für 2022 um 1,5 Prozentpunkte auf 3,2 % anhob.
Dies gab jedoch keinen Anlass für einen Politikwechsel. Im Gegenteil – die EZB kündigte an, die Staatsanleihen- und Wertpapierbestände auf ihrer Bilanz weiter zu erhöhen. Zwar reduzierte sie die Geschwindigkeit und stellte ein Ende der Nettozukäufe im Rahmen des Pandemienotfallprogramms PEPP für März 2022 in Aussicht. Gleichzeitig kündigte sie jedoch Nettozukäufe unter dem regulären Wertpapierkaufprogramm noch bis über Oktober 2022 hinaus an. Für 2022 waren Zinserhöhungen zu diesem Zeitpunkt somit ausgeschlossen. Wohlgemerkt: Die Inflationsrate gemessen am Verbraucherpreisindex lag bereits im November 2021 bei 4,9 %.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Dies traf 2022 auch die EZB. Der Angriff Russlands auf die Ukraine löste eine Energiekrise aus und fungierte als Brandbeschleuniger für die Inflation. Nicht zuletzt infolge des weitgehenden russischen Gaslieferstopps seit dem Sommer erreichte die Inflation im Euroraum im Oktober eine zweistellige Marke von 10,6 % und lag auch im November noch bei 10 %. Die Spanne reicht von rund 7 % in Frankreich bis 21 % in baltischen Staaten. In Deutschland erreichte der Anstieg der Verbraucherpreise im Oktober mit 10,4 % ein Niveau, das hier selbst während der Energiekrise in den 1970er-Jahren nicht erreicht wurde. Im November gab er nur leicht nach.
Der Anstieg der Teuerungsraten beschränkt sich nicht auf den Euroraum. Auf die Corona-Rezession 2020 folgten anhaltende Lieferengpässe und Knappheit von Rohmaterialen und Vorprodukten. Nach Ende der Lockdowns wurden zudem Arbeitskräfte knapp. Dementsprechend stieg die Inflation weltweit. Die amerikanische Notenbank Fed verpasste dabei genauso wie die EZB eine rechtzeitige Straffung der Geldpolitik und zwar mit weitgehend denselben Argumenten. Allerdings nahm die Fed den Kampf gegen die Inflation früher und entschiedener auf. Von März bis Oktober erhöhte sie den Leitzins sechs Mal in diesem Jahr auf eine Bandbreite von 3,75 bis 4 %, davon vier Mal in Schritten um 75 Basispunkte.
Auch wenn sich die Teuerungsrate in den USA zuletzt auf 7,7 % abgeschwächt hat, sieht sich die Fed noch nicht am Ende. Die Teuerungsrate liegt immer noch fast vier Mal so hoch, wie von der Notenbank angestrebt. Das Ziel ist eine Steigerung der Verbraucherpreise um 2 %. „Wir haben noch einen langen Weg vor uns“, resümierte Fed-Chef Jerome Powell.
Seit Juli hat die EZB ebenfalls die Notenbankzinsen erhöht, und zwar bis Oktober in drei Schritten um insgesamt 200 Basispunkte. Der Leitzins lag Ende Oktober bei 2,0 %. Zu diesem Satz können sich Geschäftsbanken Liquidität bei der Notenbank leihen. Der an den Finanzmärkten maßgebliche Einlagensatz, zu dem die Institute ihr Geld bei der EZB parken, stieg im Oktober auf 1,5 %. Die Finanzmärkte erwarten bis 2023 einen Anstieg auf 3 %. Ob dies reicht, um die Inflation unter Kontrolle zu bekommen, bleibt fraglich. Die Erwartungen an den Finanzmärkten legen nahe, dass die Inflation wieder deutlich sinkt. Über eine Frist von drei Jahren wird derzeit eine durchschnittliche Inflationsrate von 3,5 % erwartet. Der EZB-Stab prognostizierte im September noch einen Rückgang der Inflationsrate auf 2,3 % im Jahr 2024.
Für 2023 erwarten viele Experten eine meist leichte Rezession. Dies stellt die EZB vor eine Bewährungsprobe. Entsprechend ihres Auftrags sollte sie der Inflationsbekämpfung Priorität geben. Das würde bedeuten, die Zinsen weiter zu erhöhen. Denn die reale Verzinsung, d. h. Notenbankzins abzüglich erwarteter Inflation, bleibt noch länger negativ. Die Geldpolitik unterstützt damit weiterhin die Nachfrage, während das gesamtwirtschaftliche Angebot durch den Energiepreisschock reduziert ist. EZB-Präsidentin Lagarde hat bereits klargestellt, dass die Notenbank einen Beitrag zur Dämpfung der Nachfrage liefern muss, aber kräftig Gegenwind aus der Politik bekommen. Sowohl der französische Präsident Emmanuel Macron als auch die Ministerpräsidentinnen von Italien und Finnland, Giorgia Meloni und Sanna Marin, haben sich bereits lautstark beschwert, die EZB würde mit ihren Zinserhöhungen das Wirtschaftswachstum beschädigen. Außerdem sind die Finanzierungskosten für die Regierungen stark gestiegen.
Bemerkenswert ist, dass die EZB im Juni 2022 bereits vor der ersten Zinserhöhung eine Notfallsitzung einberief, um den Anstieg der Zinsaufschläge für Staaten mit hohen Schuldenquoten wie etwa Italien zu diskutieren. Kurz darauf führte sie ein neues Instrument ein, das sogenannte Anti-Fragmentierungs-Instrument TPI (Transmission Protection Instrument). Es soll dazu dienen, auseinanderlaufende Renditen von Staatsanleihen der Mitgliedsländer zu begrenzen. Dazu will die EZB Anleihen einzelner Eurostaaten aufkaufen. Auslaufende deutsche und niederländische Anleihen könnten so durch italienische ersetzt werden.
Problematisch ist das Programm gleich in mehrfacher Hinsicht. So weicht die EZB damit von dem Prinzip ab, dass Staatsanleihekäufe nach dem Kapitalschlüssel erfolgen. Die Notenbank fürchtet, dass bei stark steigenden Zinsdifferenzen eine Zinserhöhung zu stark auf einzelne Länder wirkt. Hier sieht sie die Einheitlichkeit der Geldpolitik gefährdet. Doch es ist Aufgabe der Regierungen, die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen und damit angemessene Finanzierungskonditionen sicherzustellen. Zudem bleibt die Frage, wie zu bestimmen ist, welche Zinsaufschläge aus fundamentaler Sicht noch gerechtfertigt sind und welche nicht. Außerdem hat die EZB bereits das OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) in ihrem Arsenal. In diesem Fall erfordern Interventionen ein Programm des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und so die Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten. Dazu kommen Auflagen, die die Wettbewerbsfähigkeit des betreffenden Landes sowie die Tragfähigkeit seiner Finanzen stärken sollen.
Es bleibt abzuwarten, ob die EZB die Inflation unter Kontrolle bekommt. Sie hat sich mit dem neuen Programm zusätzlichem Druck durch die Regierungen ausgesetzt. Jedenfalls sollte sie sich nicht darauf verlassen, dass der anstehende wirtschaftliche Abschwung allein die Inflation wieder auf 2 % zurückführt.
Prof. Volker Wieland, Ph.D., ist Stiftungsprofessor für Monetäre Ökonomie und Geschäftsführender Direktor des Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) an der Goethe-Universität Frankfurt. Von 2013 bis April 2022 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Er ist Mitglied im Kronberger Kreis sowie im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums der Finanzen.
Dieser Artikel stammt aus der AnlegerLand 2023.
Foto: © Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung