Von Swen Lorenz
Der Mauerfall 1989 führte zu einem Boom deutscher Aktien, getrieben durch die Aussicht hoher Investitionen in den Wiederaufbau der früheren DDR. Stehen die Kursgewinne europäischer Börsen zu Beginn dieses Jahres unter ähnlichen Vorzeichen?
Wie schnell sich die Zeiten ändern. Galten europäische Aktien letztes Jahr noch als dauerhafte Nachhinker, standen sie kurz darauf im Mittelpunkt.
Einer der Mitauslöser war die Aussicht auf einen „Marshall-Plan II“ für den Wiederaufbau der Ukraine.
Noch wird in der Ukraine geschossen. An der Frage, wann und wie es zum Frieden oder zumindest einem dauerhaften Waffenstillstand kommen könnte, scheiden sich die Geister. An der Börse gibt es jedenfalls schon erste Vorzeichen. Die Aktien ukrainischer Landwirtschaftsunternehmen, von denen eine Handvoll auch an der Börse Warschau gehandelt werden, notieren schon wieder über ihrem Vorkriegsniveau. An großen Wettbörsen, die sich u. a. in wichtigen Wahlen als nützlicher Indikator erwiesen haben, wird die Chance auf einen Waffenstillstand noch im Jahr 2025 derzeit auf über 50 % veranschlagt.
Jeder Krieg ist irgendwann vorbei und danach beginnt der Wiederaufbau. Im Fall der Ukraine kann kaum Zweifel daran bestehen, dass es dann zu einem der größten Wiederaufbauprogramme aller Zeiten kommen wird. Für den Westen wird die Stabilität und Stärke der Ukraine eine dauerhafte Priorität bleiben. Das Land muss seine physische Infrastruktur neu errichten und darüber hinaus eine erfolgreiche, starke Wirtschaft aufbauen.
Chancen durch Innovation
Die Risikokapitalgeber in Silicon Valley wittern bereits die Chance, in der Ukraine innovative, technologiebasierte Verteidigungsunternehmen („defencetech“) aufzubauen. Sie erwarten, dass sich die Ukraine in diesem Bereich ähnlich erfolgreich etablieren wird wie Israel. Die Vorzeichen erscheinen gut. Die Ukraine hat eine hochausgebildete Bevölkerung, durch den Krieg gab es reichhaltig Erfahrungswerte für Kriegsführung im Zeitalter von Drohnen und das ukrainische Volk ist in dieser Hinsicht enorm motiviert.
Einen Schritt vorher muss jedoch der physische Wiederaufbau des Landes betrieben werden. Ganz unabhängig vom unklaren Zeitrahmen gibt es auch eine große Bandbreite an Schätzungen des Volumens. Üblicherweise wird vom Äquivalent des Marshall-Plans gesprochen, mittels dessen Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg den europäischen Ländern wieder auf die Beine half. Ein „Marshall-Plan II“ für die Ukraine könnte einigen Schätzungen zufolge ein Volumen von 750 Mrd. US-Dollar erreichen.
Ein Fondsmanager, der das Land im Februar 2025 besuchte, schrieb mir von seiner Sorge, dass die Ukraine überhaupt nicht die Manpower und das Know-how habe, um einen großangelegten Wiederaufbau durchzuführen. Er hielt im Gespräch mit mir ein Volumen von 100 Mrd. US-Dollar für viel realistischer, und selbst dafür müsse es auch erst noch zum Frieden kommen.
Aktien mit Ukraine-Bonus
Die Unsicherheit über das Wann und Wie hat die Börsen derweil nicht davon abgehalten, bei einer Vielzahl von europäischen Aktien einen Ukraine-Wiederaufbau-Bonus in die Bewertung miteinfließen zu lassen.
Goldman Sachs und Bank of America waren die ersten Banken, die ihre institutionellen Anleger mit einer Liste von Wiederaufbau-Gewinnern versorgten. Bauunternehmen, Zementfabrikanten und Hersteller aller Arten von Produkten, die für den Bau von Wohnungen, Büros, Brücken, Eisenbahnstrecken und Energieanlagen benötigt werden, standen dabei an oberster Stelle.
Ein großer Teil der Wiederaufbaukosten dürfte von der EU getragen werden. Es liegt nahe, sich auf Unternehmen aus dem EU-Raum zu fokussieren, denn diese sollten bei der Auftragsvergabe bevorzugt werden.
Wie immer in solchen Situationen steigen die Kurse der offensichtlichen Kandidaten zuerst. Polnische Unternehmen gelten als potenzielle große Gewinner wegen der geografischen Nähe zur Ukraine und der vielfältigen Involvierung der Polen in den Bemühungen um den Nachbarn. Österreichische Unternehmen können vielfach mit langjähriger Erfahrung in Ost- und Zentraleuropa aufwarten und deutsche Unternehmen sind angesichts ihrer traditionellen Stärken und der Rolle der Bundesregierung ebenfalls in der ersten Reihe.
Viele Profiteure
Nach der ersten Euphorie dürfte es nunmehr eine Konsolidierung und stärkere Differenzierung geben. Zudem dürften noch einige weniger offensichtliche Gewinner entdeckt und neu bewertet werden. Die Auswahl ist dabei ungewöhnlich breit! Als ich Mitte Februar 2025 auf meiner Webseite eine Liste mit Ukraine-Wiederaufbau-Gewinnern publizierte, konnte ich 99 Kandidaten nennen. Seither hat sich das Feld nur noch weiter verbreitert.
Die jüngsten geopolitischen Veränderungen haben in Europa zum Entschluss geführt, wieder verstärkt in Rüstung zu investieren. Das Beispiel der Rheinmetall-Aktie bedarf überhaupt keiner Erwähnung mehr. Am Ende dürfte es mehrere Hundert börsennotierte Unternehmen geben, die von einem Wiederaufbau der Ukraine profitieren.
Diese Entwicklungen haben in der Summe – und verbunden mit anderen Aspekten – zu einer Neuentdeckung europäischer Aktien geführt. Wie die Bank of America am 28. März 2025 berichtete, flossen in den vorangegangenen vier Wochen netto 17,7 Mrd. US-Dollar frisches Kapital in europäische Aktien. Dies war der höchste Nettozufluss, den der BofA-Staranalyst Michael Hartnett in den letzten zehn Jahren gemessen hatte.
Kurzfristig wird dieses Thema zwangsweise Volatilität und Rückschläge erleiden. Nach der ersten Euphorie im Vorfeld von Präsident Trumps Initiative sind die Kurse ukrainischer Staats- und Unternehmensanleihen wieder deutlich zurückgekommen. Im Jahr 2024 hatten sich einige dieser Titel mehr als verdoppelt.
Befreiungsschlag für Europa
Die generelle Stoßrichtung dürfte jedoch dauerhaft eine andere bleiben. Europa hat – zumindest psychologisch – einen Befreiungsschlag gemacht. Der Kontinent besinnt sich gerade auf einige seiner Stärken zurück, was auch bei internationalen Kapitalsammelstellen registriert wird. Europäische Aktien sind im internationalen Vergleich weiterhin günstig, selbst wenn man die im Vergleich zu den USA dauerhaft geringere Wachstumsdynamik miteinkalkuliert. Polnische Aktien notieren derzeit beispielsweise gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis noch immer 24 % unter ihrem zehnjährigen Bewertungsdurchschnitt.
Anleger müssen bei der Aktienauswahl naturgemäß immer den Einzelfall betrachten, aber gerade hier liegt auch die Chance, wenn es im nächsten Schritt zu einer differenzierteren Betrachtung kommt.
Jeder Krieg ist irgendwann vorbei. Wann dies für die Ukraine der Fall sein wird, kann derzeit niemand mit Sicherheit sagen. Für Europa – und europäische Aktien – scheint aber auf jeden Fall eine neue Phase zu beginnen. Die Vehemenz, mit der zuletzt frisches Kapital nach Europa floss, ist dabei nur ein Indikator von vielen.
Zum Autor
Swen Lorenz investiert seit über 30 Jahren mit Leidenschaft an der Börse. Er veröffentlicht seine Analysen und Einschätzungen auf Englisch unter www.undervalued-shares.com und berichtet dort schon seit 2022 über Investmentopportunitäten im Kontext des Ukraine-Konflikts.
Die Kapital Medien GmbH, der Verlag der Finanzzeitschriften AnlegerPlus, AnlegerPlus News und AnlegerLand ist eine 100-%-Tochter der SdK Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V.
Bild: © Valentin Kundeus – stock.adobe.com