Auch als Ausdruck einer komplexeren Welt tritt die Geoökonomie entsprechend vielgestaltig in Erscheinung. Die EU reagiert mittlerweile mit der Überarbeitung ihrer Handelsstrategie.
Die klassische Geopolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts richtete den Blick zunächst auf Staatsgrenzen und war in dieser Zeit mit imperialen Ansprüchen kontaminiert. Wiederbelebt nach dem Ende des Kalten Kriegs sollte nun anstelle des Kampfs um Räume der Wettbewerb auf dem globalen Weltmarkt ausgetragen werden.
Es war die Geburtsstunde der Geoökonomie, die Geografie, Politik und Wirtschaft verknüpfte. Unter dem Primat der Ökonomie folgte ein Machtkampf der konkurrierenden Ordnungsmodelle.
Handel ohne Wandel
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sich mit Russland und den USA vorübergehend zwei Hegemonen gegenüber. Doch das Machtgefüge verschob sich rasch zugunsten der USA. Durch die wirtschaftliche Öffnung der vormaligen Ostblockstaaten und Chinas sowie der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) nahm die Globalisierung endgültig Fahrt auf.
Mit dem Aufstieg Chinas und anderer Nationen geriet aber die alte Weltordnung ins Wanken. Zugleich schuf die Globalisierung immer mehr Abhängigkeiten, die auch dazu missbraucht wurden, Druck auszuüben. Lange Zeit herrschte die Überzeugung, dass Wirtschaftskontakte das friedliche Zusammenleben fördern würden. Das hat sich jedoch als Illusion erwiesen.
Der Handel mit autoritären Staaten wird nun neu bewertet. Nach monatelangem Streit darf beispielsweise der chinesische Staatskonzern COSCO weniger Anteile als ursprünglich geplant an dem Container-Terminal des Hamburger Hafenbetreibers HHLA übernehmen. Ebenso spielt die EU mit dem Gedanken, den Mitgliedsstaaten wegen Sicherheitsbedenken verbindliche Vorgaben beim Ausbau von 5G-Mobilfunknetzen zu machen.
China selbst setzt schon lange auf Geoökonomie. Das zeigen beispielsweise seine strategischen Investitionen in Afrika oder die Neue Seidenstraße. Die Außenwirtschaftspolitik der USA ist ebenfalls seit einigen Jahren zunehmend geopolitisch geprägt. Seit 2018 tobt ein Handelsstreit mit China. Auch auf europäische Waren erhob die US-Regierung unter Präsident Trump Strafzölle. Brüssel antwortete wiederum mit Gegenzöllen.
Um nicht zuletzt zwischen den Rivalen USA und China zerrieben zu werden, reagierte die EU mit einer neuen Handelsstrategie. Ihr zugrunde liegt das Konzept einer offenen strategischen Autonomie. Ziel ist es unter anderem, die Schwäche der WTO durch deren Reform zu überwinden. Die neue Strategie stellt ebenfalls den ökologischen und digitalen Wandel in den Mittelpunkt. Außerdem soll die transatlantische Partnerschaft ausgebaut sowie das Augenmerk auf die Nachbarländer und Afrika gelegt werden.
Subtile Einflussnahme
Währenddessen sind Sanktionen und Exportbeschränkungen auf dem Vormarsch. Daneben dienen Infrastrukturprojekte, Rohstoff- und Handelsabkommen sowie Sicherung von Handelsrouten der Geoökonomie. Nicht nur Gütermärkte sind betroffen, sondern vor allem auch Technologie und Kapital.
Die Fähigkeit, internationale Standards durchzusetzen, kann dabei ebenso ein Mittel im Wettlauf um die wirtschaftliche Vorherrschaft sein wie die Finanz- und Währungspolitik. Dies hat die chinesische Führung längst erkannt und strebt in internationalen Normungsorganisationen eine führende Position an. Ebenso soll die Gründung der Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und der New Development Bank (NDB), die von den BRICS-Staaten gegründet wurde, Alternativen zu IWF und Weltbank bieten, den dominierenden Institutionen der Finanzarchitektur der Nachkriegszeit.
Für Aufregung sorgte aber auch der Inflation Reduction Act (IRA), mit dessen Hilfe die US-Regierung die Inflation bekämpfen und den Klimaschutz vorantreiben möchte. Allerdings sind auch geostrategische Konturenerkennbar. Denn Bestandteil sind unter anderem Subventionen in Form von Zuschüssen, Steuergutschriften und Darlehen, die zumeist daran geknüpft sind, dass die Produkte in den USA hergestellt werden oder in Ländern, die mit den USA ein Freihandelsabkommen haben. Somit haben Güter, die nicht in diesen Ländern hergestellt wurden, nur eingeschränkt Zugang zu den Förderungen.
Der Brüssel-Effekt
Als Antwort plant die EU, im Rahmen des Green Deal Industrial Plan den Mitgliedsländern mehr Staatshilfen und Steuererleichterungen für grüne Technologien zu erlauben. Für die Energiewende ist zudem die Halbleiterindustrie unverzichtbar. Bislang kommt der Großteil der Produktion aus Asien und Nordamerika. Das Ziel des im Juli endgültig gebilligten European Chips Act ist daher, mittelfristig den europäischen Anteil der Halbleiterproduktion auf 20 % zu verdoppeln.
Außerdem treibt Brüssel die Diversifizierung der Handelspartner im Energiesektor voran, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland zu senken. Neben der Diversifizierung von Rohstoff- und Energielieferanten ist auch eine verstärkte Cyberabwehr notwendig. Die Entwicklung einer europäischen Cloud-Edge-Infrastruktur wurde angestoßen. Dabei sind die Rechenzentren der Cloud näher an den Endverbrauchern.
Schon ab Herbst 2023 soll dagegen das Anti-Coercion-Instrument angewendet werden. Es ist in erster Linie als Abschreckung gedacht. Zur Abwehr wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen seitens anderer Länder gegen einzelne EU-Mitglieder ermöglicht es die Einführung von Zöllen, Beschränkungen des Handels mit Dienstleistungen und Beschränkungen des Zugangs zu ausländischen Direktinvestitionen oder zur Vergabe öffentlicher Aufträge.
Der EU-Markt ist zwar etwas kleiner als der US-amerikanische, er gilt jedoch als wichtiger Exporteur und Importeur. Der Begriff Brüssel-Effekt beschreibt übrigens, wie die EU allein durch diese Marktmacht weltweit Regulierungsstandards setzt. Selbst London fällt nach dem Brexit der Abschied von der CE-Kennzeichnung schwer.
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