Immer wenn Politiker mit Superlativen um sich werfen, ist Vorsicht geboten. Trumps „Liberation Day“ war noch frisch in schlechter Erinnerung, da verkaufte Friedrich Merz den neuen Koalitionsvertrag hierzulande als großen Erfolg. Mich reißt das Papier jedoch nicht vom Hocker. Und Vorschusslorbeeren für denkünftigen Kanzler mag ich diesem angesichts der Halbwertszeit seiner Aussagen nicht geben.
Aber gehen wir es der Reihe nach an. Das Thema Fachkräfte brennt der Wirtschaft unter den Nägeln, wie überall in Europa. Doch ob die angekündigte Steuerpolitik im globalen Wettbewerb punktet, ist mehr als fraglich. Bei der hohen Abgabenlast auf Arbeitseinkommen wirken ein möglicher Verzicht auf Steuererhöhungen und Entlastungen für kleinere und mittlere Einkommen kaum einladend für qualifizierte Zuwanderung. Zumal absehbar ist, dass steigende Sozialabgaben das verfügbare Netto weiter schmälern werden.
Für die heimische Wirtschaft setzt das Verhandlungsergebnis ebenfalls kein Aufbruchsignal. Der geplante Investitionsimpuls durch Abschreibungen greift nur, wenn Unternehmen bereit sind zu investieren. Aus reinem Patriotismus werden sie das nicht tun. Hierfür sind begleitende Entlastungen nötig. Doch die Körperschaftsteuer soll erst deutlich später und dann nur in Schritten und unter Finanzierungsvorbehalt gesenkt werden. Zur Abschaffung des Soli hat man sich nicht durchringen können und befeuert durch die Klientelpolitik der Koalitionspartner werden die Sozialabgaben künftig steigen. Die Schwächen unserer Energiepolitik, die gerade für die energieintensive deutsche Industrie von Bedeutung ist, werden durch neue Schulden (Stichwort Industriestrompreis) nur kaschiert, ohne strukturelle Korrekturen, etwa beim Thema Atomkraft. Da wird ein neues Fass ohne Boden aufgemacht. Und ob der Bürokratieabbau so energisch angegangen wird, wie vollmundig angekündigt, glaube ich erst, wenn geliefert wird.

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Der Koalitionsvertrag wirkt für mich daher ambitionslos. Viele Maßnahmen stehen von Beginn an unter Finanzierungsvorbehalt. Dabei eröffnen die Sondervermögen für Militär und Infrastruktur neue Spielräume, weil Haushaltspositionen ausgelagert werden können. Das im Unions-Wahlkampf beschworene Einsparpotenzial im regulären Haushalt hat Merz nur halbherzig angegangen. Der „Verantwortung für Deutschland“, dem Slogan, unter dem der Vertrag läuft, wird er deshalb nicht gerecht.
Vielleicht sichert er den Machtanspruch eines Kanzlers Merz. Und er nährt SPD-Hoffnungen auf einen konjunkturellen Impuls in Verbindung mit Geld aus dem Sondervermögen, das dann positiv auf die Partei abfärbt. Doch zukunftsweisend ist das nicht. Die Strukturen bleiben unangetastet, ein Politikwechsel sieht anders aus.
Mancher mag nun sagen, man solle nicht gleich wieder alles schlechtreden. Aber angesichts der realen Krisen um uns herum – militärisch wie wirtschaftlich – bringt schönreden nichts. Wer (auch) zwischen den Zeilen des Koalitionsvertrags lesen kann, ist klar im Vorteil: Er ist ein visionsloser und reformunwilliger Kompromiss für Unionswähler wie SPD-Wähler, vor allem aber für Deutschland.
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