Kollaps der Geburtenraten

Teddybär mit Pflaster und Verbänden

Nur wenige Meldungen oder Studien behandeln bisher den durch Pandemie und Lockdown verursachten Geburtenknick in wirtschaftlich führenden Ländern. Dabei ist das Bevölkerungswachstum einer der wichtigsten Faktoren für das volkswirtschaftliche Wachstum überhaupt.

Die Geburtenzahlen sind in allen entwickelten Ländern neun Monate nach Beginn des Covid-19-Ausbruchs deutlich gefallen. In China sank die Zahl der Geburten 2020 beispielsweise um 18 %. In Italien waren die Geburtenraten neun Monate nach Pandemiebeginn um 22 % und in den USA um 11 % rückläufig. Allerdings befanden sich die „Klapperstörche“ in den jeweiligen Ländern bereits seit Jahren im Arbeitsstreik. In den USA waren in den sechs Jahren vor der Coronapandemie die jährlichen Geburtenzahlen z. B. um 2,3 % zurückgegangen. In Italien liegt der mehrjährige Vergleichswert bei 4 %.

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Ende der 1-Kind-Politik in China

Nach den im Mai veröffentlichten offiziellen Zahlen der Volkszählung ist die Bevölkerung in China seit 2010 um jährlich 0,53 % auf nun 1,41 Milliarden Menschen gewachsen. Doch Experten schätzen, dass die Bevölkerungszahl der Volksrepublik bereits um 0,3 Millionen pro Jahr schrumpft. Noch in den 1980er-Jahren wurden pro Tausend Chinesen 24 Geburten jährlich verzeichnet. Inzwischen sind es nur noch acht, mit stark fallender Tendenz.

Bis ins Jahr 2100 könnte sich die Bevölkerungszahl damit in China glatt halbieren. Um dem entgegenzuwirken, erlaubt die Regierung nun sogar ein drittes Kind für chinesische Paare. Erst seit 2016 ist ein zweites Kind möglich.

Zu Beginn der Pandemie wurden vielfach die Hoffnungen geäußert, dass es in neun Monaten zu einem wahren Baby-Boom kommen werde. Doch die tatsächliche Entwicklung hat nun das Gegenteil bewiesen. Im Zeitalter der Empfängnisverhütung und der Geburtenplanung braucht es eben vor allem Zuversicht in die persönliche und wirtschaftliche Zukunft, um Nachwuchs in die Welt zu setzen. Und die war und ist in vielen Fällen durch die Unsicherheiten der Pandemie zumindest beschränkt.

Das amerikanische Brookings Institute hat die Geburtenzahlen in den USA nach Altersgruppen untersucht und festgestellt, dass 15- bis 19-Jährige sowie 40- bis 44-Jährige mit 13 % bzw. 15 % die stärksten Rückgänge verzeichneten. Die beiden marginalen Altersgruppen sind durch bessere Wahlmöglichkeiten gekennzeichnet, während 20- bis 40-Jährige in typischen geordneten Paarbeziehungen weniger geneigt sind, von ihrer Lebensplanung wegen eines Virus abzuweichen. Die Brookings-Experten schätzen, dass insgesamt 300.000 Babys als Folge der Pandemie in den USA nicht geboren wurden.

Reproduktionsraten fallen

Damit sind die sogenannten Replacement-Rates in den wirtschaftlich führenden Ländern weiter abgesunken. Um die Bevölkerungszahlen zu halten, sind mindestens 2,1 Geburten pro Frau notwendig. Die Rate ist in China und Japan inzwischen auf 1,3 gefallen, in den USA auf 1,6 und befindet sich mittlerweile auch in Ländern wie Brasilien (1,8), Indonesien (2,0) und selbst Indien (2,1) auf dem Rückzug. Wirklich hoch sind die Replacement-Rates nur noch in Ländern wie Nigeria mit 5,1 oder Pakistan mit 3,4. Und selbst dort sind sie stark fallend. In Taiwan, Südkorea und Singapur liegen die Raten inzwischen sogar unter 1.

Die Gesamtbevölkerungszahlen eines Landes werden neben den Neugeburten von zwei weiteren Faktoren geprägt: der Lebenserwartung sowie der Zuwanderung. Beide Faktoren schlugen während der Pandemie negativ zu buche. Beispielsweise ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA seit Beginn der Pandemie um ein Jahr gefallen. In Südkorea sind 2020 erstmals mehr Verstorbene als Geburten verzeichnet worden. Und in Australien wurde gar eine rückläufige Bevölkerungszahl dokumentiert, weil die Grenzen nahezu vollständig geschlossen waren. Und das gilt für die meisten Länder, insbesondere die Zieldestinationen von Migration.

Urbanisierung, Emanzipation und Jugendarbeitslosigkeit

Abgesehen von den Effekten der Pandemie sind bei der globalen Bevölkerungsentwicklung weitere mächtige Megatrends am Werk. Die zunehmende Urbanisierung ist vielleicht der Wichtigste. Noch in den 1960er-Jahren lebte nur ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung in Städten. Heute sind es über 60 %.

Auf dem Land sind viele Kinder willkommen, da gleichbedeutend mit vielen helfenden Händen in der Landwirtschaft und bei der Altersversorgung. Eine ähnliche Entwicklung hat es in Deutschland und Europa schon gegeben, denn noch vor hundert Jahren waren fünf oder auch zehn Kinder nicht selten. In Städten dagegen gilt, dass viele Münder zu füllen und mit Wohnraum, Ausbildung, Gesundheit zu versorgen sind, was viel kostet, meist zu viel.

Mieten und Immobilienpreise sind überall auf der Welt derart gestiegen, dass es für die meisten Singles und junge Paare kaum erschwinglich ist, einen eigenen Hausstand zu gründen. Unter solchen Bedingungen müssen Kinderwünsche erstmal hintenanstehen. Dabei spielt die stagnierende Entwicklung der Reallöhne und die meist hohe Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit eine wichtige Rolle.

Urbanisierung heißt andererseits, dass Frauen sich emanzipieren, fortbilden, eigenes Geld verdienen und folglich eigene Entscheidungen treffen – gerade, wenn es um Familienplanung geht. Die Anzahl der Teenager-Geburten ist drastisch gesunken und Frauen über 40 weisen in allen fortgeschrittenen Ländern eine Geburtenrate auf, die höher ist als die der bis 20-Jährigen.

Weitere Auswirkungen

Die sinkenden Geburtenraten betreffen nicht zuletzt die Renten- und Pensionssysteme der Welt. In den 1960er-Jahren finanzierten sechs arbeitende Beitragszahler einen Pensionär. Heute ist das Verhältnis 3:1, bis 2035 wird es auf 2:1 fallen! Dazu kommt, dass der exorbitant hohe und fortlaufend ansteigende Schuldenberg von einer schrumpfenden Anzahl zukünftiger Steuerzahler bedient und getilgt werden muss. Das gilt insbesondere für die überalternden Länder wie Italien, Japan und die südostasiatischen Tigerstaaten.

Die ultimativ vernichtende Prognose kommt jedoch von Wissenschaftlern der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York. Diese untersuchen seit 1973 die Anzahl fortpflanzungsfähiger Spermien bei Männern. Zwischen 1973 und 2011 nahm deren Anzahl um 59 % ab. 2021 alarmierten die Forscher, dass die Extrapolation der aktuellen Trends auf einen Rückgang fortpflanzungsfähiger Spermien auf null bis 2045 hinweisen. Damit sei die Überlebensfähigkeit der menschlichen Spezies infrage gestellt. Ursachen sind toxische Chemikalien, Schwermetalle, Genussgifte und Volkskrankheiten wie Adipositas.

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