Business Judgement Rule in der Insolvenz

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Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 12.3.2020 entschieden, dass die sog. Business Judgement Rule nicht auf Insolvenzverwalter anzuwenden ist (Az. IX ZR 125/17).

§ 93 Aktiengesetz (AktG) regelt die Haftung von Vorständen für Pflichtverletzungen. Nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt keine Pflichtverletzung vor, wenn das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Eine entsprechende Anwendung dieser Haftungsbefreiung auf Insolvenzverwalter verneint der BGH, auch wenn diese ähnlich einem Vorstand das Unternehmen fortführen können.

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Sachverhalt

Der Beklagte ist Verwalter in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Er führte das Unternehmen der Schuldnerin noch über ein Jahr fort. Später bestellte das Insolvenzgericht die Klägerin zur Sonderinsolvenzverwalterin „zum Zweck der Prüfung und ggfs. Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen“ gegen den Beklagten.

Die Klägerin wirft dem Beklagten im Rahmen der Unternehmensfortführung mehrere Pflichtverletzungen vor, u. a. wurden Beraterverträge abgeschlossen, Vermögensgegenstände trotz offener Gegenleistung ins Ausland freigegeben und weitere umfangreiche Dienstleistungsverträge eingegangen. Der Beklagte verteidigt sich u. a. mit der Business Judgement Rule.

Unterschiedliche Haftungsregeln

Das Gericht bejaht die Haftung des Insolvenzverwalters – diese richte sich bei unternehmerischen Entscheidungen nach § 60 Insolvenzordnung (InsO). „Maßstab aller unternehmerischen Entscheidungen des Insolvenzverwalters im Rahmen einer Betriebsfortführung ist der Insolvenzzweck der bestmöglichen gemeinschaftlichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger sowie das von den Gläubigern gemeinschaftlich beschlossene Verfahrensziel – Abwicklung des Unternehmens, Veräußerung oder Insolvenzplan – als Mittel der Zweckerreichung. […]

Hierzu hat der Insolvenzverwalter unternehmerische Entscheidungen im Rahmen einer Unternehmensfortführung daran auszurichten, ob die zu erwartenden mittelbaren oder unmittelbaren Vorteile für die Masse angesichts der mit der Maßnahme verbundenen Kosten, Aufwendungen, Chancen und Risiken aus der Sicht ex ante diese als eine für die Masse wirtschaftlich im Ergebnis sinnvolle Maßnahme erscheinen lassen. Maßgeblich ist, ob aus ex ante-Sicht die für die Unternehmensfortführung und für das von den Gläubigern beschlossene Verfahrensziel erreichbaren Vorteile der Masse die damit verbundenen Kosten zu rechtfertigen vermögen“.

„§ 60 Abs. 1 Satz 2 InsO eröffnet einen ausreichenden Rahmen, um die nicht ausdrücklich geregelten Pflichten und die Sorgfaltsanforderungen eines Insolvenzverwalters bei unternehmerischen Entscheidungen sachgerecht zu bestimmen. Der Insolvenzverwalter hat hiernach immer für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen.“

„§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG soll klarstellen, dass eine Erfolgshaftung der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft ausscheidet, dass also für Fehler im Rahmen des unternehmerischen Entscheidungsspielraums nicht gehaftet wird. […] Um für einen Insolvenzverwalter sicherzustellen, dass eine Erfolgshaftung für unternehmerische Entscheidungen ausscheidet und ihm ein unternehmerischer Entscheidungsspielraum zusteht, bedarf es keiner Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. […] Zugleich wird auf diese Weise sichergestellt, dass jede Unternehmensfortführung den Zielen des § 1 InsO dienen muss und keinen Selbstzweck hat“.

„Bereits der aus § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO abzuleitende Verhaltensmaßstab berücksichtigt die schwierige Situation, in der sich der Insolvenzverwalter bei der Unternehmensfortführung befindet. […] Für nur objektiv ex post festzustellende unternehmerische Fehlentscheidungen haftet der Insolvenzverwalter nicht.“

Wirtschaftlichkeitsgebot maßgeblich

„Richtigerweise muss die zu treffende unternehmerische Entscheidung dem Wirtschaftlichkeitsgebot im Insolvenzverfahren […] Rechnung tragen. Der hierzu bestehende Spielraum des Insolvenzverwalters bestimmt sich nicht nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, sondern nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen. Der Spielraum zur Beurteilung der Risiken hängt davon ab, in welchem Stadium sich das Insolvenzverfahren befindet. Um eine Fortführung des Unternehmens nicht von vornherein unmöglich zu machen, steht dem Insolvenzverwalter zu Anfang ein erheblicher Spielraum für unternehmerische Entscheidungen zu.

Nach Ablauf einer großzügig zu bemessenden Einarbeitungszeit ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, den Verfahrenszweck des § 1 InsO in den Vordergrund zu rücken und verstärkt die Interessen der Insolvenzgläubiger an einer bestmöglichen gemeinschaftlichen Befriedigung zu berücksichtigen. Diesen steht gemäß §§ 157, 158 InsO die Entscheidung zu, ob ein Unternehmen stillgelegt oder fortgeführt werden soll. […] Demgemäß handelt der Insolvenzverwalter bei unternehmerischen Entscheidungen nach Ablauf der Einarbeitungszeit pflichtwidrig, wenn die Maßnahme aus der Perspektive ex ante angesichts der mit ihr verbundenen Kosten, Aufwendungen und Risiken im Hinblick auf die Pflicht des Insolvenzverwalters, die Masse zu sichern und zu wahren, nicht mehr vertretbar ist.“

Abweichende Stakeholderinteressen

„Die Situation des Insolvenzverwalters ist nicht derart derjenigen des Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft angenähert, dass ihre Haftung für unternehmerische Entscheidungen die Erstreckung der Business Judgement Rule auf den Insolvenzverwalter erfordert. Ein wesentlicher Unterschied in der Haftung für unternehmerische Entscheidungen folgt aus den Interessen der Beteiligten. […] Der Insolvenzzweck erlaubt es in der Regel nicht, dass die Betroffenen sich vor solchen Risiken durch rechtsgeschäftliche Gestaltung selbst schützen; er rechtfertigt es andererseits aber auch nicht, dass sie den Schaden tragen, den der Insolvenzverwalter durch die Außerachtlassung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters herbeiführt. […] Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen Insolvenzverwalter und Insolvenzgläubigern.

Dabei ist unerheblich, ob Insolvenzgläubigern verallgemeinernd eine andere Risikopräferenz als Aktionären zu unterstellen ist. […] Auch beschränkt auf das Verhältnis zu den Insolvenzgläubigern ist die Geltung eines besonderen Haftungsfreiraums für Insolvenzverwalter nicht interessengerecht, weil es an alternativen Mechanismen fehlt, die in diesem Fall einen hinreichenden Schutz der Insolvenzgläubiger gewährleisten. […] Insbesondere die Überwachung durch den Gläubigerausschuss (§ 69 InsO) und die Aufsicht durch das Insolvenzgericht (§ 58 InsO) sind hierzu nicht geeignet“.

Bild: © Pulwey – fotolia.com

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